Ein Journalist der renommierten „New York Times“ stellt Deutschland als EM-Gastgeber ein schlechtes Zeugnis aus. Er sieht auch positive Punkte, aber von den deutschen Tugenden findet er nicht viele. „Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten“, beginnt er.
Ein Großereignis ist immer auch die perfekte Gelegenheit für den Gastgeber, sich in einem guten Licht zu präsentieren. All den Tausenden Besuchern, die von überall ins Land strömen, ein außergewöhnliches Erlebnis zu präsentieren und Werbung in eigener Sache zu machen. Für das Land, die Stadt, die Menschen. Was denkt nun also die Welt über diese Fußball-Europameisterschaft bisher, oder besser gesagt: über Deutschland als Gastgeber?
Die sozialen Netzwerke zeigen es: Über so manch Eigenheit wird sich amüsiert, über anderes geärgert. Die Themen sind vielfältig: Funklöcher, die Bargeld-Liebe der Deutschen, der aus Sicht der Briten zweifelhafte Charme Gelsenkirchens, Verspätungen der Bahn und mehr. Gelobt wird auch, vor allem die Stimmung in den Stadien. Ein Journalist der amerikanischen „New York Times“ hat sich das Ganze vor Ort einmal genauer angeschaut und rechnet nun in einer großen Reportage mit Deutschland als EM-Gastgeber ab. Vor allem mit jenen Tugenden, die den Deutschen immer nachgesagt werden. Sein Realitätscheck ist ernüchternd.
Der Titel der Reportage verrät schon viel: Euro 2024 und deutsche Effizienz – „vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten“. Das Aufmacher-Foto zur Überschrift: ein völlig überfüllter Treppenübergang. Journalist Sebastian Stafford-Bloor schildert in dem Beitrag seine eigenen Erfahrungen sowie die einiger Fans und begibt sich auch auf Spurensuche, was schieflaufe bei der Deutschen Bahn.
Um es vorwegzunehmen: Stafford-Bloor findet zum Abschluss seines Beitrages auch viele positive Aspekte, aber endet mit den Worten: „Im Moment stehen die schlechten Dinge im Vordergrund.“
„Miserable Bedingungen auf dem Weg zu und von den Spielen“
Effizienz, Verlässlichkeit, Zweckmäßigkeit – diese Qualitäten, so der Autor, verbinden viele Menschen am meisten mit Deutschland. „Aber bisher hat sich bei der EM keines dieser Klischees bewahrheitet“, schreibt er und zählt auf: „Die Organisatoren des Turniers hatten Probleme mit der Kontrolle der Zuschauer vor den Stadien. Die Fans haben miserable Bedingungen auf dem Weg zu und von den Spielen ertragen müssen. Der U-Bahn- und Zugverkehr in den Austragungsstädten ist unter der zusätzlichen Nachfrage zusammengebrochen.“
In der Folge führt er Beispiele auf. Vor allem über Probleme beim Auftakt in München ist er überrascht. „Die Stadt ist es gewohnt, große Fußballmengen zu bedienen, da Bayern München seine 80.000 Zuschauer fassende Allianz-Arena Spiel für Spiel, Jahr für Jahr, ausverkauft.“
Außerhalb des Stadions funktioniere bei Bundesliga- und Champions-League-Spielen alles gut, am Freitagabend könne davon aber nicht die Rede gewesen sein. „Die Bahnstrecke von München nach Frottmaning kam zum Erliegen. Die Züge hielten an. Außerhalb der Allianz-Arena herrschte – wie bei anderen Spielen in der Folgezeit – Chaos.“ Lange Schlangen vor dem Stadion, Gedränge überall, mäßige Organisation.
Die Sache mit der Bahn und der Umgang der Deutschen damit
Von Gelsenkirchen berichtet er ebenfalls wenig Gutes. „Die Straßenbahnverbindung vom Bahnhof zur Arena war so verstopft und überfüllt, dass einige Fans den gesamten Weg zu Fuß zurücklegten–- etwa anderthalb Stunden vom Hauptbahnhof der Stadt. Der 1:0-Sieg der Engländer war am Ende nur ein Nebenschauplatz von Geschichten über weinende Kinder, starken Regen und in vielen Fällen Verwirrung.“
Und dann kommt er genauer auf die Deutsche Bahn zu sprechen, zitiert einen Fan, der von „richtigem Chaos“ am Bahnhof spricht. Verspätungen, spontane Gleisänderungen, Überfüllung. Stafford-Bloor stellt fest: „Einst der Goldstandard des Bahnverkehrs in Europa, ist sie heute weit von diesem Höhepunkt entfernt, und das schon seit geraumer Zeit.“
Amüsant seine Beobachtungen, wie die Deutschen mit Bahn-Problemen umgehen: „Während Menschen außerhalb Deutschlands über die Verspätungen entsetzt sind, kennen diejenigen, die im Land leben, die Probleme der DB nur zu gut. Züge sind verspätet. Züge kommen nicht an. Anschlüsse werden verpasst und die Menschen sitzen fest. Setzen Sie sich in einen DB-Wagen, wenn eine Verspätung angekündigt wird, und achten Sie auf die Blicke, die die Deutschen austauschen, und darauf, wie sie mit den Augen rollen; es ist zu einer Pointe geworden.“
Stafford-Bloor hat recherchiert, mit der DB und Allianz pro Schiene gesprochen, erklärt seinen Lesern, wie es zum aktuellen Zustand kam. Sein Fazit: „Ein kompliziertes Problem, für das es keine offensichtliche Lösung gibt. Es handelt es sich um ein Problem, das der Euro 2024 um Jahrzehnte vorausgeht und noch viele Jahre andauern wird.“
„Die Deutschen sind auch wunderbare Gastgeber“
Und dann, am Ende des Textes, geht es doch noch um positive Aspekte. Die Atmosphäre in den Stadien, die Qualität des Fußballs zum Beispiel. Und: „Die Deutschen sind auch wunderbare Gastgeber, und von Hamburg im Norden bis München im äußersten Süden bietet das Land eine Fülle von Speisen, Getränken, Architektur und Geschichte, die den Aufenthalt bei dieser Europameisterschaft zu einem Erlebnis machen.“
Stafford-Bloor lobt zudem all die freiwilligen Helfer. „Sie geben unter schwierigen Umständen ihr Bestes und arbeiten extrem hart, um den Menschen zu helfen. Auch wenn es in den Fanzonen Probleme mit der Überfüllung gab, hat man sich offensichtlich viele Gedanken darüber gemacht, wie man den Fans rund um die Spiele Unterhaltung bieten kann.“
Ganz so schlimm ist es also nicht.