Sven Felix Kellerhoff

Warum die Öffnung der TV-Archive von ARD und ZDF überfällig ist

05.04.2024
Lesedauer: 5 Minuten
Franz Alt prägte als Moderator des ARD-Politmagazins „Report“ in den 1970er- und 1980er-Jahren deutsche Zeitgeschichte / Quelle: picture-alliance / dpa

Das „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ fordert neben vielen anderen Veränderungen, dass die Anstalten ihre Sendungsarchive „frei zugänglich“ machen. Das wäre für die Zeitgeschichte ein wichtiger Fortschritt.

Ob Nachrüstung oder Kernenergie, Waldsterben oder Umweltverschmutzung: Das bundesdeutsche Publikum schaltete die Fernseher ein, wenn in den 1970er- und 1980er-Jahren „Report“ mit Franz Alt oder „Monitor“ mit Klaus Bednarz auf Sendung gingen. Denn die beiden betont linken Moderatoren und ihre Redaktionen brachten immer wieder Beiträge, die für Tage, manchmal Wochen die öffentliche Diskussion in der Bundesrepublik prägten – oft mehr als Debatten im Bundestag.

Wer freilich dieser Wirkung als Historiker nachforschen will, muss sich in Geduld üben: Die Sendungsarchive der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind zwar formal zugänglich, in der Praxis aber ausgesprochen benutzerunfreundlich. Das ist nicht neu; schon beim Historikertag 2012 in Mainz forderten Zeithistoriker eine deutliche Änderung dieser Praxis.

Der langjährige Leiter des ARD-Politmagazins „Monitor“ Klaus Bednarz deckte Skandale auf – lag aber auch daneben
Quelle: picture alliance / SZ Photo

Gebracht hat das wenig; 2014 verabschiedete „Regelungen über den Zugang für Wissenschaft und Forschung zum Archivgut der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“ (ÖRR) boten nur formal besseren Zugang. Noch immer heißt es: „Die Archive der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unterstützen primär den Sende- und Produktionsbetrieb und die Unternehmen insgesamt.“

Dann folgt, inzwischen ÖRR-typisch gegendert, eine gönnerhafte Formulierung: „Darüber hinaus stehen die Archive entsprechend eines gemeinsamen Beschlusses der Intendant:innen für Anfragen aus Wissenschaft und Forschung offen.“ Jedes staatliche Archiv würde bei so einer Tätigkeitsbeschreibung an den Pranger der Kritik gestellt – und der ÖRR ist mit seiner Finanzierung aus verpflichtenden Gebühren faktisch staatlich.

Jetzt könnte Bewegung in den zähen Abwehrkampf des ÖRR gegen umfassende Zugänglichkeit seiner Altproduktionen kommen. Denn im gerade publizierten „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland“ heißt es – neben vielen anderen vernünftigen Vorschlägen – auch ganz klar: „Die Archive des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind frei zugänglich.“

Die Erstunterzeichner des Manifests, rund hundert namentlich genannte Personen sowie 33 Mitarbeiter des ÖRR, die aus Sorge vor Sanktionen durch ihre Vorgesetzten oder Kollegen ihre Unterschriften bei einem Rechtsanwalt hinterlegt haben, nennen die ÖRR-Archive treffend „wesentliche Wissens- und Identitätsspeicher unserer Gesellschaft“.

Natürlich sind die anderen Forderungen der Manifest-Autoren wie ein Ende der „Meinungsmache“, künftige Einhaltung der „journalistisch-ethischen Standards“ oder die derzeit in den Redaktionen nicht existente „innere Pressefreiheit“ gesellschaftlich bedeutsamer als der Zugang zu Archiven für Historiker. Jedoch stehen die hier errichten Hürden beispielhaft für das Eigenleben, das der ÖRR in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Das zeigen zwei Beispiele aus der Praxis.

Blick ins Magazin im Gebäude des Deutschen Rundfunkarchivs in Potsdam-Babelsberg. Hier könnte ein zentrales Archiv der politisch relevanten ARD- und ZDF-Sendungen eingerichtet werden
Quelle: picture-alliance / ZB

Als WELT erstmals 2007/08 intensiv am Thema Fluchttunnel nach dem Mauerbau um West-Berlin 1961 arbeitete (und im Folgenden zahlreiche Berichte dazu veröffentlichte), antwortete der RBB als Verwalter des Archivs der damaligen (West-) „Berliner Abendschau“ auf eine Anfrage, es gäbe keine Mitschnitte bestimmter, genau bezeichneter Sendungen, in denen Fluchthelfer und Flüchtlinge interviewt worden waren.

Als wenige Monate später das ZDF gestützt auf WELT-Recherchen eine TV-Dokumentation produzierte, gab es diese Mitschnitte auf einmal nicht nur, sie wurden dem Mainzer Sender auch problemlos zur Verfügung gestellt.

Zweitens war WELT 2022 interessiert an den Berichten des ÖRR, vor allem des NDR und des ZDF, zum Terroranschlag der RAF auf den Hamburger Sitz des Axel Springer Verlages (in dem WELT damals erschien und heute erscheint) am 19. Mai 1972. Die Antwort fiel eindeutig aus: Pro „angefangene“ Minute sollten für eine öffentliche Präsentation 500 Euro bezahlt werden, für die Ausstrahlung etwa im Sender WELT sogar 1300 Euro pro angefangener Minute. Hinzu kommen sollten technische Kosten und eventuelle „Musiknutzungsgebühren“.

Weiter hieß es: „Sollten Sie sich nach Erhalt des sendefähigen Materials gegen eine Lizenzierung entscheiden, berechnen wir eine einmalige Bearbeitungsgebühr in Höhe von 50 Prozent der oben genannten Mindestminutenlizenz plus technische Kosten.“ Es handelte sich wohlgemerkt um Nachrichtenbilder über ein Bombenattentat.

Zum Vergleich: Das Bundesarchiv stellte WELT unbürokratisch mehrere Tausend Seiten freigegebene Ermittlungsunterlagen der Bundesanwaltschaft zu diesem Anschlag 1972 kostenlos zur Verfügung. Da sie aus Bestandserhaltungsgründen ohnehin gescannt wurden, fielen nicht einmal Digitalisierungskosten an, wie sie gewöhnlich bei staatlichen Archiven entrichtet werden müssen.

Was hindert den ÖRR bisher, seine Archive zu öffnen? Das Kostenargument zieht angesichts von rund 8,5 Milliarden Euro Gebühreneinnahmen nicht – man müsste nicht einmal eine der primitiven Vorabend-Gameshows absetzen oder einen unnötigen Kanal wie ZDFNeo, das zweite Programm des zweiten Programms, streichen, um mehr als genug Mittel zur Verfügung zu haben. Schon ein paar wenige der hunderte Social-Media-Kanäle der ARD würden reichen.

Ist es vielleicht die Sorge, nachträglich der Manipulation oder gar der Lüge überführt zu werden? Die skandalöse Falschberichterstattung beispielsweise von „Monitor“ über den Anti-Terror-Einsatz in Bad Kleinen 1993 könnte darauf hindeuten. Viele weitere angebliche oder tatsächliche Skandale seit den 1970er-Jahren verdienten noch eine zeithistorische Überprüfung.

Oder handelt es sich einfach um das gute Gefühl, über Herrschaftswissen zu verfügen? Historische Zeitungen können in allen deutschen Staats- und vielen Universitäts- oder Landesbibliotheken problemlos als Bände oder auf Mikrofilm ausgewertet werden, manche auch schon digital. Bei meinungsbildenden Sendungen des ÖRR ist das anders. Jedenfalls noch, denn wenn die Autoren des „Manifests für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland“ sich durchsetzen können, wird vieles besser.

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