Finanzminister Christian Lindner kann kommendes Jahr auf Steuereinnahmen von 962 Milliarden Euro hoffen. Während der Staat Kasse macht, werden Lohnerhöhungen von hohen Steuersätzen aufgefressen.
Sie lesen einen Auszug aus dem werktäglichen Newsletter «Der andere Blick», heute von Johannes C. Bockenheimer, Wirtschaftsredaktor der NZZ. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Otto von Bismarck war nicht nur ein charismatischer Volksheld, sondern auch ein Schlitzohr. Als das Kaiserreich 1889 eine Rentenversicherung einführte, setzte der Regierungschef das Renteneintrittsalter bei 70 Jahren fest. Der Haken an der Sache: Die durchschnittliche Lebenserwartung lag damals bei gut 40 Jahren. Ein Grossteil der Rentenbeiträge landete daher nach einer langen Erwerbskarriere nicht bei den Greisen, sondern im Staatshaushalt.
Von der Bismarckschen Schlitzohrigkeit haben sich auch einige zeitgenössische Politiker inspirieren lassen. So warnen Sozialdemokraten und Grüne seit Monaten vor einem drohenden Finanzkollaps des Staates. Weil in den öffentlichen Kassen Ebbe herrsche, stehe das Sozialsystem vor dem Abgrund, der Ausbau der Infrastruktur vor dem Aus und der Kampf gegen den Klimawandel vor dem Scheitern. Ihre Forderung: Die Steuern müssen steigen, die Schuldenbremse erneut gelockert werden.
Bislang hält Bundesfinanzminister Christian Lindner dem Druck seiner Mitkoalitionäre stand. Und das aus gutem Grund: Der deutsche Staat hat so viel Geld in der Kasse wie niemals zuvor in seiner Geschichte. Im kommenden Jahr könnte der Staat insgesamt 962 Milliarden Euro an Steuern einnehmen. So geht es aus der neuen Steuerschätzung des Finanzministeriums hervor, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. 2025 werden die Steuereinnahmen laut Prognose dann erstmals über die Schwelle von einer Billion Euro steigen.
Der Staat hat sich verzettelt
Der Grund, weshalb diese Riesensumme nicht reicht, ist einfach erklärt: Der Staat hat sich verzettelt. In der Bundesrepublik war es lange Zeit staatliches Selbstverständnis, dass sich die Verwaltung ins Leben ihrer Bürger immer nur dann einmischt, wenn es nötig ist. Heute scheint es andersherum: Der Staat interveniert, wann immer es möglich ist.
So wurde vom Bundesforschungsministerium die Entwicklung einer App gefördert, mit der sich Friseurkunden einen passenden Schnitt aussuchen können. Kosten für den Steuerzahler: 1,3 Millionen Euro. Gleichzeitig fliessen weiterhin dreistellige Millionenbeträge als Entwicklungshilfe ins «Entwicklungsland» China – jedes Jahr.
Wo immer ein Problem auftaucht, wird versucht, es mal mit einer Million, mal mit einer Milliarde zu lösen. Ein hoffnungsloses Unterfangen: Denn während die Zahl der Probleme keine Grenzen kennt, immer neue hinzukommen, ist das Kapital endlich.
In vielen Fällen ist dabei nicht der Bürger grösster Profiteur der vermeintlich wohltätigen staatlichen Problemlösung, sondern der Staat selbst. Bestes Beispiel dafür ist die «Grundrente», ein staatlicher Zuschlag für Menschen mit geringen monatlichen Rentenzahlungen. Ein Budget von 1,3 Milliarden Euro ist dafür jedes Jahr im Haushalt eingeplant.
Ein gutes Drittel dieser Summe landet allerdings nicht in den Portemonnaies bedürftiger Ruheständler, sondern in der Verwaltung. Grund dafür sind die hohen Verwaltungsausgaben. Keine Frage, an diesem Gesetz hätte auch das Schlitzohr Bismarck Gefallen gefunden.
Die Mittelschicht zahlt einen hohen Preis
Es ist deshalb an der Zeit, dass sich der Staat wieder auf seine ursprüngliche Rolle besinnt: als Dienstleister, der die Probleme des Bürgers nicht löst, sondern ihm dabei hilft, sie selbst zu lösen. Dieses Umdenken setzt voraus, dass der Staat nicht nur Verantwortung abgibt, sondern auch finanzielle Mittel. Statt also immer neue Rekorde bei den Staatseinnahmen zu feiern, muss der Staat abspecken, die Ausgaben drosseln und die Steuern senken. Dass Finanzminister Lindner seine Koalitionspartner dazu aber noch überreden kann, ist unwahrscheinlich.
Dabei würde es gerade die Wähler von Sozialdemokraten und Grünen entlasten. Denn für einen grossen Teil der arbeitenden Bevölkerung lohnen sich Leistung und Mehrarbeit kaum mehr. Wer hierzulande der Mittelschicht angehört, muss von jedem zusätzlich verdienten Euro durchschnittlich die Hälfte an den Staat als Steuern und Sozialabgaben zahlen. In einigen Einkommensbereichen liegt diese Grenzbelastung mit fast 80 Prozent sogar noch weit darüber. Die Folge: Selbst elementare Wünsche wie den vom Leben im Eigenheim zu verwirklichen, sind für die Mittelschicht mittlerweile unbezahlbar.
Wenn der Staat schlemmt, darben die Bürger: Das wusste auch schon Reichskanzler Bismarck. «Die Bürokratie ist es, an der wir alle kranken», hat er einmal in einer ehrlichen Minute eingestanden.