Johannes C. Bockenheimer

Die Grünen-Flüsterin: wie eine Ökonomin Munition für den Kampf gegen die Kernkraft lieferte

13.04.2023
Lesedauer: 6 Minuten
Im Dienst der Grünen? Die Ökonomin Claudia Kemfert. Bildquelle: Reuters

Die Volkswirtschafterin Claudia Kemfert hat sich vehement für das Ende der Atomkraft eingesetzt. Doch ihre Forschungsarbeit ist umstritten.

Schluss, aus und vorbei: Am Samstag wird Deutschland zur atomkraftfreien Zone, die letzten drei Kraftwerke gehen nach langer politischer Debatte vom Netz. Vor allem für die Grünen ist das ein historischer Sieg – auf den die Partei seit ihrer Gründung vor 43 Jahren hingearbeitet hat. Gut möglich also, dass beim ein oder anderen Grünen-Politiker am Wochenende die Korken knallen werden, nachdem die Reaktoren ihre letzte Kilowattstunde Strom produziert haben.

Doch gelingen konnte der Partei dieser Sieg nur durch Unterstützung von aussen. Denn in der jahrzehntelangen Polit-Schlacht wussten die Grünen nicht nur Tausende Aktivisten und zahllose Nichtregierungsorganisationen hinter sich. Auch die Wissenschaft machte sich für den grünen Kampf gegen die Kernkraft stark. Exemplarisch steht dafür die Wirtschaftswissenschafterin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Als Deutschland im vergangenen Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in eine Energiekrise schlitterte und kurzzeitig eine Laufzeitverlängerung diskutiert wurde, sprang Kemfert für die Grünen in die Bresche. In Dutzenden Interviews, Beiträgen und Analysen opponierte sie gegen derlei Überlegungen. Am vergangenen Montag, kurz vor Schluss also, legte die Ökonomin nach: In einer langen Studie machte sie aufs Neue deutlich, warum die Kernenergie niemals wieder einen Beitrag zur Energieversorgung leisten solle.

Darin heisst es: «Atomkraft war seit Beginn des Atomzeitalters eine der teuersten Energieformen und zu keiner Zeit wettbewerbsfähig mit kostengünstigeren Technologien, wie historisch, zum Beispiel Kohle oder Erdgas, und heute erneuerbaren Energien.» In Auftrag gegeben hatte die Studie die Grünen-Fraktion im Bundestag.

Zweifel an Studienergebnissen

Für Ulrich Waas ist der Atom-Ausstieg hingegen kein Grund zum Feiern. Der Physiker hat seine Berufskarriere der Kernkraft gewidmet, war jahrzehntelang Mitarbeiter eines Kraftwerkherstellers, leitete Sicherheitsüberprüfungen für die Meiler, die jetzt vom Netz gehen sollen. Auf seine Expertise griff auch die deutsche Regierung zurück, die ihn in die Reaktor-Sicherheitskommission berief. Zum verbohrten Atom-Apologeten ist er in all den Jahren nicht geworden, er weiss über die Risiken und Beschränkungen der Technologie Bescheid und scheut sich nicht, darüber zu sprechen. Dennoch ist Waas überzeugt davon, dass die Kernkraft einen Beitrag dazu leisten sollte, das Land zur Klimaneutralität zu führen und die Energiestabilität zu sichern.

Kemferts Behauptung von der teuren Kernenergie widerspricht Waas deshalb vehement. «Die Erzeugungskosten liegen bei den deutschen Kraftwerken bei zwei bis drei Cent pro Kilowattstunde», sagt er. «Darin sind alle Kosten vom Personal über die Brennstoffkosten bis hin zu den Entsorgungskosten enthalten. Bei Strom aus Wind- oder Solaranlagen liegen die garantierten Einspeisevergütungen hingegen zwischen acht und zehn Cent, teilweise sogar noch höher.»

Entscheidend für die Profitabilität seien nicht alleine die Investitionskosten, wie es Kemfert in ihrer Studie darstellt, sondern sei auch die Laufzeit einer Anlage. «Ein Kernkraftwerk kostet zwar mehr als ein Windpark gleicher Nennleistung, dafür haben die Reaktoren aber auch eine viel höhere Verfügbarkeit und können 60 oder 80 Jahre am Netz bleiben», sagt Waas. Windräder oder Solaranlagen seien hingegen nur auf einen Betrieb von 20 bis 25 Jahren angelegt.

Kostenfalle Kraftwerksneubau

Aber auch in der Kernkraft laufen die Dinge bisweilen aus dem Ruder. «Es gibt Kraftwerksbauten, in denen ein schlechtes Projektmanagement dazu geführt hat, dass die Kraftwerke viel teurer wurden als geplant», sagt Waas. Ein Beispiel dafür ist das finnische Kernkraftwerk Olkiluoto, das auch die Ökonomin Kemfert in ihrer Studie kritisch betrachtet.

Der Bau eines dritten Reaktors dauerte dort mehr als ein Jahrzehnt länger als ursprünglich geplant. Die Baukosten explodierten: Statt den ursprünglich kalkulierten drei Milliarden Euro verschlang der Bau bis zu seiner Fertigstellung 2023 rund 11 Milliarden Euro. «Mit dem Reaktorbau wurde bereits angefangen, obwohl die technischen Planungen noch nicht abgeschlossen waren», erklärt Waas.

Besser lief es hingegen beim Bau der drei deutschen Kraftwerke, die jetzt vom Netz gehen sollen. «Hier gelang es nicht nur den Zeitplan bei der Konstruktion einzuhalten, es gelang sogar, den ursprünglichen Kostenrahmen mit damals drei Milliarden D-Mark geringfügig zu unterschreiten. Die Betreiber konnten deshalb ausserordentlich viel Geld verdienen.» Darüber allerdings ist nichts in Kemferts Studie zu lesen.

Stattdessen reihen sich darin Argumente aneinander, die allesamt einem profitablen Weiterbetrieb der deutschen Kraftwerke zu widersprechen scheinen, aber diese Anlagen überhaupt nicht betreffen. Waas zweifelt deshalb an der wissenschaftlichen Neutralität der Berliner Forscherin: «Für die Studie wurden selektiv weltweit ungünstige Beispiele herausgepickt und ohne irgendeine Begründung nahelegt, dass sie auf die Kernkraft in Deutschland übertragbar seien.» Von einer wissenschaftlichen Studie möchte Waas deshalb gar nicht sprechen, sondern nennt Kemferts Papier ein «Musterbeispiel aus der Agitprop-Küche».

Die umstrittene Ökonomin

Es ist ein Vorwurf, der Kemfert seit langem verfolgt. Sie suche die Nähe zu den Grünen, liefere der Partei mit ihren Studien ständig neue Munition im politischen Kampf, werfen ihr Kollegen aus der Wissenschaft vor. «Kemfert forscht eigentlich nicht, sie betreibt grüne Politik mit akademischen Fussnoten», lästert der Chef eines namhaften Wirtschaftsforschungsinstituts.

Tatsächlich lobte sie kurz vor der Bundestagswahl in einer Analyse das Wahlprogramm der Öko-Partei im Hinblick auf den Klimaschutz, während sie allen anderen Parteien Nachholbedarf attestierte. In der Kernkraft-Debatte wiederum flankierte sie die Weigerung der Grünen, einer Laufzeitverlängerung zuzustimmen. Beinahe im Wochentakt äusserte sie sich warnend, dass die Risiken der Kernkraft einen Weiterbetrieb nicht rechtfertigen würden.

Anders allerdings als es Kemfert und mit ihr die Grünen implizierten, lasse sich die Risikobewertung der Kernkraft nicht so einfach in ökonomische Modelle pressen, sagt der Ökonom Ferdinand Dudenhöffer, der zuletzt an der Schweizer Universität St. Gallen forschte. «Das Risiko der Kernkraft wird in Deutschland viel höher bewertet, als es in Frankreich oder Schweden der Fall ist», sagt er. «Atomkraft-Gegner haben es in Deutschland sehr gut verstanden, der Politik ihre Risikobewertung aufzudrücken.» Die Folge: Auflagen und somit Kosten für die Betreiber stiegen, die Profitabilität sank.

Das Endlager als Trickkiste

Vor allem in der langen Diskussion über ein Endlager für radioaktive Abfälle habe sich das gezeigt, so Dudenhöffer. Seriös berechnen liessen sich die Kosten für ein Endlager ohnehin nicht, denn niemand wisse, wie lange die Abfälle dort wirklich lagern werden oder ob es in der Zukunft technologische Möglichkeiten geben wird, die Abfälle unschädlich zu machen.

Doch die Gegner der Atomkraft griffen tief in die Trickkiste: «Sie haben behauptet, dass die Abfälle bis in alle Ewigkeiten strahlen werden. Und wenn man diese Rechnung aufstellt, gehen natürlich auch die Kosten ins Unendliche», sagt Dudenhöffer.

Ihr Vorgehen verhehlen führende Köpfe der Antiatombewegung nicht. «Uns war klar, dass wir Atomkraft nicht nur über Protest auf der Strasse verhindern können», sagte Grünen-Ikone Jürgen Trittin 2022 im Interview mit der «Welt». «Daraufhin haben wir in den Regierungen in Niedersachsen und später in Hessen versucht, Atomkraftwerke unrentabel zu machen, indem man die Sicherheitsanforderungen hochschraubt.»

Die Kraftwerkbetreiber mögen früher noch üppige Gewinne gemacht haben, im Verlauf der Jahre aber trieb der deutsche Staat sie mit immer neuen Auflage in die Unprofitabilität. Hilfe bekam er dabei von wissenschaftlichen Stichwortgebern wie der Ökonomin Claudia Kemfert, die statt einer betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Abwägung eine politische Rechnung aufmachte. Politisch war das fraglos klug gespielt, und Grüne-Politiker genauso wie die Ökonomin Kemfert haben allen Grund, ihren Erfolg am Wochenende mit einem Glas Sekt zu begiessen.

Ob sich dieses politische Manöver allerdings auch für Industrie und Bürger als Glücksfall herausstellen wird oder auf die Sektlaune der Kernkraft-Kater folgt, bleibt abzuwarten.

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