Es wird Zeit, einen Dialog zu führen über das Unrecht, das Kritikern der Corona-Maßnahmen angetan wurde. Der nächste Teil unserer Corona-Debattenserie.
Dieser Text ist Teil der Serie „Corona-Debatte“. Alle Texte dazu finden Sie unter: https://www.berliner-zeitung.de/topics/corona-debatte
Michael Andrick spricht vielen Menschen aus der Seele. Er hält nach dem Umgang der staatlichen Institutionen mit der Corona-Krise „alles für möglich“ und konstatiert in seinem wortgewaltigen, beklemmenden Beitrag: „Die Verfassung wurde vom gesamten Staatspersonal verraten.“
Auch Tomasz Kurianowicz spricht vielen Menschen aus der Seele. Er beschreibt seine „Todesangst“, hat Verständnis für eine „schwierige Abwägungssache“ und dankt der Bundesregierung für den Schutz seiner Familie.
Haben die beiden Autoren tatsächlich, wie Kurianowicz sich ausdrückt, ein „ganz unterschiedliches Realitätsbewusstsein“ entwickelt?
Ich schätze beider Autoren offenherzige Beiträge
Andricks Ausführungen stellen sich nicht als „Rückblick“ dar, sondern sie sind vielmehr eine dichte Zusammenfassung dessen, was sich von Beginn der Corona-Krise an nach und nach offenbarte. Am ersten Tag des „Lockdowns“ – übrigens ein Begriff aus dem Strafvollzug – im März 2020 habe ich einen kritischen Diskurs angemahnt und davor gewarnt, dass wir andernfalls auf einen Zustand zusteuern, „in dem Unsicherheit und Angst bald über Wochen, Monate und Jahre aufrechterhalten bleiben.“
Jene zwei Ängste, die Andrick und Kurianowicz eindrücklich schildern, standen sich bereits Ende 2020 unversöhnlich gegenüber und veranlassten mich, über das besorgniserregende „gesellschaftliche Gegeneinander“ zu schreiben. Der Rechtsstaat hat sich indes tatsächlich als nicht krisenfest erwiesen, sodass Andrick in seiner Schlussfolgerung beizupflichten ist: „Der Mut der Justiz, Grundrechte konsequent zu verteidigen, ist zu schwach.“
ZUR PERSON
Jessica Hamed studierte Rechtswissenschaft in Mainz und Buenos Aires. Seit 2016 ist sie als Rechtsanwältin zugelassen, seit Februar 2020 ist sie zudem Fachanwältin für Strafrecht.
Als Strafrechtlerin ist sie ständig mit Fragen des Verfassungsrechts befasst. Sie vertritt seit März 2020 bundesweit in verwaltungs- und strafrechtlichen „Corona-Verfahren“ und veröffentlicht ihre Schriftsätze. Sie ist außerdem Dozentin an der Hochschule Mainz und RheinMain.
Seit langem ist die Verengung des Meinungskorridors zu beobachten und eine Verstetigung des Krisenzustands (Maskenpflicht) zu befürchten. Die „politische Solidarität“, die Kurianowicz empfindet, empfand ich 2020 als „falsch verstandene Solidarität“ und beklagte zudem eine „Doppelmoral“, die sich beispielsweise am menschenunwürdigen Umgang mit Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen zeigte, aber auch darin, dass sozial besonders vulnerable Gruppen die Maßnahmen härter trafen als beispielsweise die intellektuelle Oberschicht, die mit ihren Familien in geräumigerem Wohnraum lebte, von dort arbeiten und ihre Kinder beschulen konnte.
Ich schätze beider Autoren offenherzige Beiträge sehr und hoffe auf einen echten, wertschätzenden Dialog. Dabei gilt: Gefühle – oder das Realitätsbewusstsein – sind nicht verhandelbar. Aber sie können täuschen.
Das Grundgesetz wurde ausgehebelt
Der Dialog, den wir gesamtgesellschaftlich führen müssen, wird schmerzhaft. Eine wohlige Versöhnung ohne die notwendige und dabei schonungslose, vielleicht sogar qualvolle Tiefe kann es nicht geben. Wir müssen jetzt rasch aus dem Geschehenen für die Bewältigung der Energie- und Klimakrise lernen. Schließlich hat sich gezeigt, dass wir nicht auf institutionelle Abwehrkräfte gegen einen übergriffigen Staat vertrauen können.
Es ist „alles möglich“, ganz wie Andrick es feststellt.
Bei seinem aufrüttelnden Text handelt es sich nicht um „Nachher-ist-man-immer-schlauer“-Weisheiten. Einer kopflosen, angstgesteuerten Krisenpolitik unterlagen binnen kurzem alle ausgefeilten gesellschaftsvertraglichen Sicherheitsmechanismen des Grundgesetzes. Nichts kam von ungefähr; die sich entfaltende Dynamik blieb vielen – und doch zu wenigen – Menschen nicht verborgen. Ein erschütterndes Paradebeispiel des politisch-publizistischen Verstärkerkreislaufs war zu beobachten. Wechselseitig „schaukelten“ sich Medien und Politik hoch, waren im Wechsel Treiber und Getriebene ihrer eigenen Schreckensszenarien. Wer ausscherte, dem drohte die Verdrängung aus dem Diskurs.
Entschuldigung für die Ausgrenzung
Wir müssen über das große Ganze sprechen und dürfen uns nicht im Klein-Klein einzelner Maßnahmen verheddern. Wir müssen analysieren, wie es dazu kommen konnte, dass führende Politiker und Politikerinnen sich hemmungslos autoritärer Vokabeln wie Zügelanziehen bedienten (Markus Söder), dass der für den Rechtsstaat fundamentale Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Disposition gestellt wurde (Winfried Kretschmann), dass selbst das Bundesverfassungsgericht bisherige verfassungsrechtliche Maßstäbe ignorierte und faktisch der Regierung in Krisenzeiten einen Persilschein für hemmungs- und grenzenlose Krisenpolitik ausstellte.
Wir müssen darüber sprechen, wie es möglich war, wesentliche Teile der Gesellschaft glauben zu machen, es sei solidarisch geboten oder gar ethisch tragbar, eine ganze Bevölkerungsgruppe verächtlich zu machen und aus der Gesellschaft zu drängen. Diese Diskriminierung war staatliches Unrecht. Aus den vielen juristischen Argumenten, die für diese Beurteilung sprechen, greife ich hier nur eines heraus: Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts umfasst das menschenwürdige Existenzminimum ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Dagegen verstießen 2G-Regelungen frontal und konsequent.
Der staatliche, soziale und private Umgang mit „Ungeimpften“ wird der schmerzlichste Teil des Dialogs, der im Großen wie im Kleinen geführt werden muss. Er kann nur mit Einsicht und einer Entschuldigung für die Ausgrenzung beginnen.
Die Angst vor dem Virus hat irrationale Blüten getrieben
Diese Ausgrenzung war und ist rechtlich, ethisch und gesellschaftlich zu missbilligen. Sie stellte für eine freiheitliche Demokratie ebenso einen Tabubruch dar wie der Lockdown. Für diese Bewertung kommt es weder auf die Richtigkeit der getätigten Annahmen noch auf die Einschätzung des Gesundheitsrisikos an. Dass es zudem nie eine „Pandemie der Ungeimpften“ gab, macht das gesellschaftliche Versagen noch tragischer, aber moralisch und juristisch nicht schlimmer. Es war Unrecht, so wie es immer Unrecht ist, Minderheiten zu stigmatisieren.
Die Angst vor dem Virus hat gleichermaßen irrationale Blüten getrieben wie die Angst vor einer Diktatur. Die Risikokommunikation von Regierung und Medien war katastrophal, führte in der Spitze zu Angststörungen und zur Ausgrenzung von Menschen und befeuerte so auch die Ängste der Ausgegrenzten. Verängstigte und zugleich angstschaffende Staatsorgane sowie eine verängstigte Bevölkerung sind rechtsstaatsgefährdend. Die Radikalisierung der Auseinandersetzung bis ins Bitterböse und Unerbitterliche hinein war die Folge.
Die Aufarbeitung muss jetzt beginnen. Mit einem institutionellen Schritt. Der FDP-Politiker Andrew Ullmann hat jüngst vorgeschlagen, eine Enquete-Kommission einzurichten. Die Mitglieder der Kommission sollten dabei mit Bedacht gewählt werden, um eine wahrhafte und ernst gemeinte Aufarbeitung sicherzustellen. Dabei sollte niemand partizipieren, der oder die Verantwortung für politische Entscheidungen trug oder maßgeblich die Politik beraten hat. Nur eine unabhängige Aufarbeitung kann helfen, das äußerst in Mitleidenschaft gezogene Vertrauen in diesen Staat und seine Repräsentanten wiederherzustellen.
Ein zentrales Thema der Aufarbeitung muss dabei die Offenlegung der politischen Entscheidungsprozesse einnehmen. Bis heute ist nämlich unklar – wie etwa der Umstand, dass der Freistaat Bayern im ersten Lockdown keine Akten über die Entscheidungsprozesse geführt haben will, exemplarisch belegt – wie es zu den jeweiligen Gefahrenprognose kam, wie und ob Grundrechte gegeneinander abgewogen wurden, ob die Bundesländer eigene Gefahrenprognosen vornahmen oder im Wesentlichen die Vorgaben der informellen und von der Verfassung nicht vorgesehenen Bund-Länder-Konferenzen übernahmen, und vieles mehr.
Was diese Aufarbeitung leisten muss, ist die Erkenntnis, dass auch in der Krise nicht alles erlaubt sein kann. Auch dann nicht, wenn sich über 90 Prozent der Bevölkerung – aus auch ganz bewusst erzeugter Angst – dafür ausspricht, alle rechtsstaatlichen Tabus in den Wind zu schreiben. Es gibt sie nämlich, die roten Linien. Andernfalls wäre der Rechtsstaat lediglich eine Illusion. Die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung muss daher institutionell beginnen. Jetzt.
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