Der Schweizer Gesundheitsminister täuschte die Öffentlichkeit über die Wirkung der Covid-Impfung. Erklärungsbedarf scheint er dafür nicht zu sehen. Die Debatte um eine «Impflüge» zeigt: Die Pandemiejahre haben verletzte Seelen zurückgelassen.
Die Pandemie ist in den Köpfen vieler Leute noch nicht abgeschlossen, das haben die vergangenen Wochen gezeigt. Auch wenn die Corona-Krise inzwischen von anderen Problemen überlagert worden ist – Ukraine und Energie. Das Wort «Impflüge» geisterte plötzlich – wieder – durchs Internet. Vernehmbar war dabei auch eine Art posttraumatisches Triumphgeheul. Die «Weltwoche» titelte: «Die ‹Covidioten› hatten recht».
Hintergrund der Aufregung ist eine Szene im Europäischen Parlament von Mitte Oktober. Ein niederländischer Abgeordneter erkundigte sich bei einer Pfizer-Managerin, ob der Impfstoff vor Markteintritt darauf geprüft worden sei, ob er die Übertragbarkeit des Virus verhindere. Die Antwort von Janine Small schien kinderleicht zu sein: Nein.
Die Antwort genügte dann auch, um die Konturen des alten Grabens – zwischen Geimpften und Ungeimpften – wieder freizulegen. Auf der einen Seite Schulterzucken, auf der anderen Empörung.
Die Nonchalance der Medien
Viele Medien reagierten nicht oder ziemlich nonchalant im Stil: Das war ja schon lange klar, Pfizer hatte nie etwas anderes behauptet. Viel entscheidender aber ist, was die Politiker sagten. Ein paar Medien durchstöberten noch einmal die Aussagen, die Regierungsvertreter zu Pandemiezeiten gemacht hatten. Und tatsächlich wurde man fast überall fündig.
Was sagte die Schweizer Regierung? Im Oktober 2021 galt im ganzen Land die sogenannte Zertifikatspflicht. Wer in ein Restaurant oder in ein Museum wollte, musste getestet, geimpft oder von Covid genesen sein. In dieser Zeit sagte der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset im Fernsehen: «Mit dem Zertifikat kann man zeigen, dass man nicht ansteckend ist.» Es sei der Weg aus der Krise.
Die Aussage war kein Ausrutscher
Es wirkt stets ein bisschen kleinlich, aufzulisten, wer was wann gesagt hat. Auch ist klar, dass der Erkenntnisstand damals dünner war und die Regierungen unter einem enormen Druck agierten. Im Zweifel ging es um Leben und Tod. Räumten sie der Bevölkerung grosse Freiheiten ein, warf man ihnen Verantwortungslosigkeit vor; griffen sie in die Grundrechte ein, schallte es «Diktatur» entgegen.
Die Aussage von Berset war aber kein einmaliger Ausrutscher, und sie wurde schon da wider besseres Wissen gemacht. Schliesslich hatte Pfizer nie behauptet, den Impfstoff hinsichtlich Übertragbarkeit geprüft zu haben. Trotzdem lautete die offizielle Kommunikation des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) im Herbst 2021 so: «Die Impfung schützt davor, am Coronavirus zu erkranken und es an andere Menschen weiterzugeben.»
Ein Jahr später kann man beim BAG zum Thema Auffrischimpfung nachlesen: «Die Übertragung des Virus auf andere Personen kann kaum verhindert werden.»
Die zunehmende Bedrängung der Ungeimpften
Was hat das zu bedeuten? Die Covid-Kommunikation des Bundesrates basierte teilweise auf falschen Tatsachen. Die Bevölkerung wurde vom Gesundheitsminister falsch informiert, und dies zu einem Zeitpunkt, als dieser es eigentlich hätte besser wissen müssen. Die Kommunikation von Berset hatte dabei auch praktische Folgen.
Wer geimpft war, durfte zum Beispiel annehmen, dass er seine hochbetagten Grosseltern problemlos besuchen konnte: Schliesslich hiess es, die Impfung schütze vor der Weiterverbreitung des Virus. Die Fehlannahme erleichterte der Regierung aber auch das politische Handeln.
Mit der Einführung des Covid-Zertifikats wurden die Grundrechte von Ungeimpften und Leuten, die noch nicht an Covid erkrankt waren, beschnitten. Zu Recht wurde dies als indirekter Impfzwang und als Nötigung kritisiert. Wenn Ungeimpfte etwa in ein Restaurant gehen wollten, mussten sie einen Test machen. Zuerst wurde dieser vom Staat bezahlt – dies war noch eine sozial verträgliche Lösung. Dann aber hat die Regierung die Ungeimpften zunehmend bedrängt. Erst waren die Tests selbst zu bezahlen. Dann hat der Bundesrat auch diese Möglichkeit abgeschafft. Im Dezember 2021 trat die 2-G-Regel in Kraft: Wer nicht geimpft oder genesen war, durfte nicht ins Fitnessstudio, ins Restaurant oder ins Museum.
Hauptsorge: ein Kollaps der Versorgung
Die Verdrängung der Ungeimpften aus dem öffentlichen Leben passierte auch unter der Annahme, dass diese im Unterschied zu den Geimpften ansteckend seien. Heute ist klar, dass auch die Geimpften das Virus weiterverbreiten. Dem Gesundheitsminister musste dies aber bereits im vergangenen Jahr bewusst gewesen sein. Wie Pfizer machte auch Moderna keine repräsentativen Studien dazu, ob die Geimpften das Virus weiterverbreiten.
Aufgebrachte Impfskeptiker suggerieren nun, diese gouvernementalen Fake News änderten die ganze Geschichte und entzögen der Regierungspolitik die Legitimation. Das ist zu kurz gedacht.
Die Impfung schützte – wohl vor allem ältere Leute – vor schweren Krankheitsverläufen. So viel ist zumindest noch nicht widerlegt worden. Die Impfung half demnach auch, dass es zu keinen ernsthaften Überlastungen der Intensivstationen kam. Dies war in jenen Tagen die Hauptsorge: ein Kollaps in der Versorgung. Trotzdem war die falsche Information des Gesundheitsministers ein Puzzleteil, um die Grundrechtseinschränkungen durchzusetzen, denen das Stimmvolk im November 2021 zustimmte. Ausserdem gefährdeten Bersets Aussagen potenziell auch die Gesundheit der Bevölkerung, weil sich Geimpfte in falscher Sicherheit glaubten.
Die Krisenkommunikation des Gesundheitsministers
Der Gesundheitsminister scheint dazu nichts zu sagen zu haben. Er setzt auf seine bewährte Krisenkommunikation: schweigen. Alain Berset regiert in der Macho-Manier des 20. Jahrhunderts. Der Chef erklärt sich kaum. Das Wort «Entschuldigung» gehört vor allem in den passiven Wortschatz. Wobei sich Berset auch schon entschuldigt hat. «Ich habe am Anfang die Wissenschaft zu wenig hinterfragt», sagte er im Schweizer Fernsehen im Mai 2021. Vielleicht war dies Bersets Selbstermächtigungsmoment, um die Wissenschaft im Herbst 2021 frei zu interpretieren.
Die Medien machen es dem Bundesrat einfach. SRF würdigte Berset schon während der Pandemie: Er sei «der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort». Sein Handeln nun etwas kritischer zu hinterfragen, würde am Ende noch eine Reflexion des eigenen Journalismus bedeuten. So scheinen die meisten Zeitungen die Fehlinformation der Regierung als eine Lappalie durchgehen lassen zu wollen im Stil von: Auch wenn manches nicht stimmte, im Grundsatz hat es eben doch gestimmt.
Ein Mann im postfaktischen Zeitalter
Wenn man sich diese Geschichte vergegenwärtigt, kann man verstehen, dass viele Impfgegner und Impfskeptiker nach dem Hearing mit der Pfizer-Managerin empört sind. Schliesslich gab die Schweizer Regierung vor, sich auf die Wissenschaft zu stützen und faktenbasiert zu informieren. In einer Zeit, in der Verschwörungstheorien kursierten, schien dies besonders wichtig. Jetzt zeigt sich aber, dass sich der Gesundheitsminister selbst im postfaktischen Zeitalter bewegte, um seine Politik besser unters Volk zu bringen.
Die Vorstellung, dass die Ungeimpften die alleinigen Treiber der Pandemie seien, diente dazu, ihre Verdrängung aus dem Sozialleben zu rechtfertigen. Sie war deshalb teilweise auch die Grundlage für die soziale Ächtung der Ungeimpften. Gegen diese wurde eine Art moderne Hexenjagd betrieben. Wobei der Medientransfer aus Deutschland eine erhebliche Rolle spielte: «Die Tyrannei der Ungeimpften» wurde fast zu einem geflügelten Wort.
Die Selbstgerechtigkeit öffentlicher Figuren
In der Schweiz liess man hauptsächlich das Covid-Zertifikat sprechen: Das sollte als Schikane für die Ungeimpften genügen. Die Publikumsbeschimpfung blieb die Ausnahme, aber auch die gab es. Sanja Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero, versuchte den deutschen Diskurs in die Schweiz zu tragen: «Die Verantwortlichen für die Toten sind die Ungeimpften», sagte sie im Fernsehen. Vielleicht basierte ihre Aussage auf der falschen Information des Gesundheitsministers.
Mit etwas Abstand zur Pandemie wird die Selbstgerechtigkeit von vielen öffentlichen Figuren und Institutionen noch offensichtlicher. Sie attackierten die Ungeimpften, beriefen sich auf die Wissenschaft und merkten nicht, dass sie selbst Treiber der Pandemie waren. Wie alle, die sich nicht komplett von der Welt abschotteten.
Erschütterndes Unrecht
In der Corona-Zeit sind Freundschaften in die Brüche gegangen, Familien haben sich zerstritten. Die Gesellschaft ist deshalb aber nicht auseinandergefallen. Eine demokratische Gesellschaft erträgt viel Streit, und selbst eine gewisse Unrechtstoleranz gibt es. Die Reaktion der Ungeimpften auf die jüngste Corona-Debatte zeigt aber, dass diese Zeit an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen ist. Dass die Erfahrung, plötzlich Rechte abgesprochen zu bekommen, erschütternd ist.
Die Einstellung zur Covid-Impfung ist generell kritischer geworden. Dass sich vieles relativiert hat, ist nur schon an der Zurückhaltung vieler Impfbefürworter abzulesen, sich in diesem Winter zum zweiten Mal boostern zu lassen. Die Zweifel, wie viel diese Impfung gerade jüngeren Menschen bringt, sind gewachsen. Und auch das Bundesamt für Gesundheit ist mittlerweile defensiver und empfiehlt vor allem den «besonders gefährdeten Personen» eine Auffrischung: Personen ab 65 Jahren, Personen ab 16 Jahren mit einer chronischen Krankheit, Personen ab 16 Jahren mit Trisomie 21 und Schwangeren.
Die drei Corona-Gesellschaften
Grob gesagt gibt es momentan drei Interessengruppen. Eine Mehrheit, die findet: Corona ruhe in Frieden. Eine kleine alarmierte Minderheit, die weiter im Krisenmodus lebt. Und eine grössere Minderheit, die eine noch minuziösere Aufarbeitung der Corona-Krise fordert. Der Bundesrat muss alle drei Gruppen im Auge behalten.
Die Schweiz hat die Pandemie insgesamt gut gemeistert, und die Balance zwischen Freiheit des Individuums und Schutz der Gesundheit blieb eher gewahrt als in anderen Ländern. Die falsche Kommunikation des Gesundheitsministers zeigt allerdings, dass es keinen Grund für Selbstgefälligkeit gibt.
Das apodiktische Urteil hat verloren
Wann immer Politiker mit apodiktischen Urteilen auftrumpfen, ist Misstrauen angebracht. Die journalistische Begleitung der Regierung durch die Corona-Krise zeigt, dass viele Medien darauf wenig Wert gelegt haben. Hatten die «Covidioten» recht, wie die «Weltwoche» schreibt? Nein. Aber die anderen hatten deutlich weniger recht, als sie recht zu haben glaubten.
Der Absolutismus der Argumente – von beiden Seiten – erweist sich rückblickend als problematisch. Die Wahrheit, die man im Moment zu haben glaubt, kann sich schon morgen als Irrtum erweisen. Es gilt auch in Zukunft: Im Zweifel für den Zweifel.