Aus der Energiekrise wird im Winter eine Wirtschaftskrise. Unser Kolumnist Maurice Höfgen zeichnet ein düsteres Bild der drohenden Insolvenzwelle.
„Egal, was meine deutschen Wähler denken“ – diese Äußerung von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einer Podiumsdiskussion in Prag entfachte einen Shitstorm. Deutschland stehe weiterhin auf der Seite der Ukraine und zu den Russland-Sanktionen, wollte sie damit sagen – selbst wenn es Proteste wegen hoher Energiepreise geben sollte. Nun sollte man Shitstorms über Halbsätze nicht zu hoch hängen, aber es stellt sich doch die Frage: Hat die Ampel wirklich auf dem Schirm, wie groß die Gefahr einer Wirtschaftskrise ist?
Betriebe sind reihenweise in der Zwickmühle: Einerseits treiben Mondpreise für Öl, Gas, Fernwärme und Strom die Produktionskosten in die Höhe, andererseits fressen die hohen Preise gleichzeitig die Kaufkraft der Kunden auf. Energiepreise auf Rekordhoch, Konsumstimmung auf Rekordtief – eine üble Mischung. Ökonomen würden sagen: Aus einem Angebotsschock wird ein Nachfrageschock.
Mittelstand vor dem Abgrund
Denken wir an einen Friseursalon. Die Inhaberin bekommt Post vom Gasversorger – schlechte Nachrichten! Für die nächsten 12 Monate steigt die Gasrechnung. Ab jetzt verlangt der Versorger 25 statt neun Cent pro Kilowattstunde: fast dreimal so viel. Dass man schon lange Kunde ist und jahrelang alles doch stabil lief, hilft jetzt nichts mehr. Der Versorger muss nämlich auch längst mehr zahlen, wenn er Gas einkauft. Ab Oktober werden aus den 25 Cent sogar fast 28 Cent, die Gasumlage kommt ja noch obendrauf. Den Laden heizen, die Haare waschen, all das wird jetzt teurer.
Eigentlich müsste die Inhaberin die Preise jetzt drastisch erhöhen, sonst geht die Gasrechnung an die Substanz. Kleine Friseurbetriebe sind nicht auf Rosen gebettet, haben häufig wenig Rücklagen, wie andere Kleinbetriebe eben auch. Die wenigen Rücklagen wurden außerdem schon in der Pandemie angezapft: Lockdown, Hygienestandards, Mindestabstand – alles mit mehr Kosten und weniger Einnahmen verbunden. Es gibt aber ein Problem: Die Kunden klagen schon seit Monaten, dass alles teurer wird. Tanken, Heizen, Duschen, Einkaufen – und jetzt auch noch der Friseur? Können sich die Kunden den Friseurbesuch dann noch regelmäßig leisten? Wenn nicht, brechen dem Friseursalon die Einnahmen weg.
Tatsächlich droht die Nachfrage auch ohne Preiserhöhung für „Waschen, Schneiden, Föhnen“ wegzubrechen, denn die Preise, die wir heute an den Strom- und Gasbörsen sehen, sind längst nicht bei allen Haushalten angekommen. Für viele kommen die bitteren Briefe mit vielfach höheren Strom- und Heizkosten erst noch. Auch das Monatsticket für den Bus und das Tanken an der Zapfsäule frisst seit dieser Woche wieder mehr Einkommen. 9-Euro-Ticket und Tankrabatt sind ausgelaufen. Je mehr Geld Verbraucher beim Gasversorger, beim Verkehrsbetrieb, beim Vermieter, an der Zapfsäule oder im Supermarkt ausgeben müssen, desto weniger bleibt für Friseur-, Kino- und Restaurantbesuche übrig.
Eine Pleite wird andere Pleiten auslösen
Neben dem Friseur stehen ganz viele andere Betriebe vor der Klippe. Das Kino, das Theater, der Bäcker, der Metzger, die Wäscherei, der Metallbauer, der Tischler, der Logistiker, die Kfz-Werkstatt, das Nagelstudio, der Biomarkt, das Taxiunternehmen und und und. Die Liste ist lang. Teilweise kommen zu hohen Energiepreisen noch andere Preissprünge dazu, etwa für Weizen, Metalle oder Chemikalien. Und auch die Baubranche ist in Alarmstimmung. Die Baukosten sind um 20 Prozent gestiegen, die Materialengpässe nehmen zu. Bauaufträge werden geschoben und storniert. Obendrauf haben sich die Bauzinsen seit Jahresbeginn verdreifacht. Nicht nur der Bau selbst, auch die Finanzierung wird teurer. Je weiter die Europäische Zentralbank die Zinsen anhebt, desto größer das Risiko von ausfallenden Immobilienkrediten und desto schwieriger für Betriebe in Schieflage, mit Krediten Zeit zu gewinnen.
Kreditausfälle, Pleiten und Entlassungen wirken wie Dominosteine. Wenn der Friseur, der Bäcker oder der Metallbauer dichtmachen und Beschäftigte entlassen, bricht deren Einkommen weg, das sie sonst bei anderen Firmen ausgegeben hätten. Eine Pleite löst dann andere Pleiten aus, die Dominosteine fallen.
Sozialproteste organisieren sich bereits
Schon heute organisieren sich mehr und mehr Sozialproteste. Aus Großbritannien schwappt die Protestbewegung „Enough is Enough“ (zu Deutsch: Genug ist Genug) gerade nach Deutschland über. Auch die Oppositionsparteien rufen zu Demonstrationen auf. Kommt zu dem Energiepreisschock noch eine Pleitewelle mit massenweise Jobverlusten, kochen Wut und Frust schnell über.
Zwar hat Außenministerin Baerbock auch auf dem Podium in Prag weitere Entlastungen gefordert, doch an Versprechen vor laufenden Kameras geht mehr und mehr Menschen der Glauben verloren. Nicht zuletzt weil ihr Parteikollege und Wirtschaftsminister Robert Habeck mit der umstrittenen Gasumlage neue Belastungen auf den Weg bringt. Es ist an der Ampel, mit Unternehmenshilfen und einem neuen großen Entlastungspaket eine Brücke über den Abgrund zu bauen. Dafür bräuchte es zweistellige Milliardenbeträge. Die Schuldenbremse ist wegen Pandemie und Ukrainekrieg noch ausgesetzt, sie steht also nicht im Weg. Schon Achtklässler lernen im Politikunterricht, dass der Staat in Krisen nicht sparen darf, weil das die Krise verschärft. Klotzen statt kleckern ist das Motto.