Das höchste deutsche Gericht hat die Pflege-Impfpflicht abgesegnet. Aber es stellt klar, dass es um mehr geht als einen Piks. Ein Kommentar.
Es mag für manche schwer vorstellbar sein, aber es gibt Impfgegner, die sind nicht verrückt. Sie haben einfach nur mehr Angst vor einer Impfung als vor einer Infektion. Damit muss ein Gemeinwesen umgehen können, wenn es eine Pandemie bewältigen will.
Nicht zuletzt für diese Gruppe finden sich im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Impfpflicht in Pflegeheimen und Krankenhäusern verständnisvolle Worte (Az.: 1 BvR 2649/21).
Die Richterinnen und Richter bestätigen die seit Dezember bestehenden Immunisierungsvorschriften, ohne deren Ablehnung durch manche Betroffene zu denunzieren. „Schließlich muss davon ausgegangen werden, dass eine Impfung im ganz extremen Ausnahmefall auch tödlich sein kann“, steht dort wörtlich.
Für manche gesunde, vitale Menschen muss sich so etwas anhören wie eine Drohung.
Die Maßnahme ist kein Zwang, wirkt aber so
Folglich ist es nicht nur ein Piks in den Oberarm, den die Beschäftigten hinzunehmen haben. Das Gericht spricht von „Einbringen eines Stoffes in den Körper“ und nennt das erstmals einen „Eingriff von erheblichem Gewicht“. Es wird hilfreich für künftige Diskussionen sein, dass dies klargestellt ist.
Gleiches gilt für die Bewertung der Methoden, mit denen der Gesetzgeber das Vorgehen abgesichert hat: Wer keinen Impfnachweis vorlegen kann, riskiert Bußgelder und seinen Job.
Darin liegt zwar kein mit hoheitlichen Mitteln durchsetzbarer Impf-„Zwang“, im Ergebnis aber wirken die Maßnahmen wie ein solcher. Betroffene haben eine Wahl, die faktisch keine ist. Auch für diese Unausweichlichkeit finden die Richterinnen und Richter klare Worte.
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Die Pflege-Impfpflicht ist trotzdem verfassungsgemäß, weil sie auf das Schicksal Alter und Kranker in der Pandemie reagiert, die besonderen Schutz verdienen. Hier nimmt das Gericht eine Abwägung vor, die nicht zu beanstanden ist. Impfen schützt und trägt dazu bei, Infektionen zu verhindern. Berechtigte Impfängste haben dahinter zurückzutreten.
Es wäre falsch, die Debatte wieder zu beginnen
Es wäre falsch, den Beschluss als Ermunterung zu lesen, eine allgemeine Impfpflicht wieder in die politische Debatte zu bringen. Man wird sich unabhängig davon fragen müssen: Wäre sie aus präventiven Gründen wirklich nötig? Das wurde vergessen im heißen Pandemieherbst des letzten Jahres, als die Impfpflicht für alle, die vorher niemand wollte, plötzlich höchste Dringlichkeit bekam.
Danach verabschiedete man sich aus der verfassungsrechtlichen Realität und deklarierte das Vorhaben im Bundestag zur Gewissensfrage, die dann erwartungsgemäß in keinen Konsens führte. Die Botschaft kam an: So ernst ist die Lage nicht oder jedenfalls nicht mehr.
Dass die Impfpflicht aktuell vom Tisch ist, ist gut; dass dies für das Thema Pandemie insgesamt gilt, womöglich nicht. Das Verfassungsgericht attestiert der Bundesregierung zwar den „erforderlichen Sach- und Fachverstand“ zur Bewältigung der Krise. Aber aufpassen müssen alle.