Marine Le Pen hat das Image ihrer rechtsextremen Partei geändert – und steht der Präsidentschaft so nah wie nie zuvor. Wie konnte das passieren? Eine Busfahrt durch das Herz Frankreichs.
Julie Apricenas Mission beginnt an diesem Tag an einer Ausfallstraße in der Mitte Frankreichs. Knapp 20 Mitstreiter hat sie hier versammelt, sie tragen blaue Jacken und Fahnen mit der Aufschrift „Marine Président“. Das Bild der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen ragt neben ihnen übergroß von einem Wahlkampfbus.
Apricena begrüßt alle Ankommenden, kontrolliert nochmals den Bus. Seitdem sie 16 Jahre alt ist, engagiert sich die 30-Jährige bei der Partei. Sie hat das mittlerweile zu ihrem Beruf gemacht und ist vor allem für die Jugendarbeit in der Region verantwortlich. Nun ist sie seit Anfang des Jahres im Wahlkampfmodus, stellt sich mit ihren Mitstreitern fahnenschwenkend auf Autobahnbrücken, verteilt Wahlbroschüren auf Märkten, gibt Pressekonferenzen. Alles, damit Le Pen die Präsidentschaftswahl gewinnt.
Es ist Donnerstag, da waren es noch vier Tage bis zur entscheidenden Wahl. Bis zum Schluss wollen die Wahlkämpfer hier im Département Cher um jede Stimme kämpfen. Denn am Sonntag entscheidet sich, wer künftig das Land regiert: der amtierende Präsident Emmanuel Macron – oder die Rechtspopulistin Marine Le Pen? Letzte Umfragen vor der Wahl sehen zwar Macron vorne. Le Pen aber liegt demnach bei 44 bis 47 Prozent der Stimmen – so nah lag der Erfolg für eine Präsidentschaftskandidatin von einer extrem rechten Partei noch nie.
„Wir vergessen niemanden“
Es ist ein eher ungewöhnlicher Ort, den die Wahlkämpfer für diesen Tag ausgesucht haben: Sie sind in Graçay, einem kleinen Dorf mit knapp 1.500 Einwohnern am äußersten Rand des Départements Cher. „Wir gehen nicht nur in die großen Städte“, sagt Apricena und fügt hinzu: „Wir vergessen niemanden.“ Dabei betont sie das „Wir“, damit auch gleich klar ist, wie das gemeint ist. Präsident Emmanuel Macron nämlich, Le Pens Konkurrent in der Stichwahl, interessiere sich lediglich für die großen Städte – das ist eine der Kernaussagen des Rassemblement National (RN). Tatsächlich ist Macrons Partei in den ländlichen Gegenden nur wenig präsent, während der RN einen besonderen Schwerpunkt darauf setzt.
Noch 2017 unterlag Le Pen Macron mit knapp 34 Prozent deutlich. Seitdem hat die rechte Politikerin am Image der Partei gearbeitet: Sie benannte die Partei um, aus der „Nationalen Front“ (Front National) wurde die versöhnlicher klingende „Nationale Versammlung“ (Rassemblement National). Sie strich rassistisches Vokabular aus dem Repertoire, ließ ihren Vater Jean-Marie, der die Partei einst gründete, ausschließen. Auch andere Hardliner mussten die Partei verlassen oder gingen freiwillig. Diese sogenannte Entteufelung zielte vor allem auf eines ab: Den Rassemblement zu einer Partei zu machen, die für die bürgerliche Mitte wählbar ist. Dabei bleiben viele ihrer Vorstellungen radikal. Geht das auf?
Der RN macht den Kommunisten Terrain streitig
Während der Bus durch die leuchtenden Rapsfelder fährt, zählen Apricena und ihre Mitstreiter auf, was schiefläuft in dem Département. Es geht um die geringe Ärztedichte in der Region, die zu den sogenannten medizinischen Wüsten Frankreichs zählt. Apricena zeigt dazu eine landesweite Rangliste, auf der die Region Centre-Val de Loire, zu der auch Cher gehört, auf dem vorletzten Platz steht. Es geht um die Corona-Impfpflicht für Pflegeberufe, die aus ihrer Sicht die Krise nur noch verschärfe. Und es geht um die Abwanderung der jungen Leute, für die es in Cher kaum Ausbildungen und Universitäten gibt.
Die Themen werfen ein Schlaglicht auf die Lage in dem Département, das knappe 200 Kilometer von Paris entfernt liegt und sich selbst als das Herz Frankreichs bezeichnet. Die Region ist geprägt von Abwanderung, in vielen Orten stehen Häuser leer. Früher gab es auch Industrie, etwa in der Stadt Vierzon, die eigentlich als Hochburg der Kommunistischen Partei galt – bis der Rassemblement National ihr diese Position streitig machte. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen führte hier Le Pen, nur knapp gefolgt von dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon.
„Die einzig wahre Arbeiterpartei“
Das schlägt sich auch in den Wahlergebnissen nieder: Während Macron den großen Teil seiner Wählerschaft in urbanen Gebieten findet, ist Le Pen tendenziell im ländlichen Raum erfolgreicher. So auch im Département Cher: Macron holte in der größten Stadt Bourges und deren Vororten mehr Stimmen, Le Pen war in vielen ländlichen Bezirken erfolgreicher. In der Gemeinde Graçay etwa erhielt sie mehr als 32 Prozent der Stimmen, Macron landete mit unter 22 Prozent abgeschlagen auf dem zweiten Platz.
Die Gruppe im Bus ist durchmischt. Die einen sind schon im Rentenalter, andere noch in der Schule. Mit dabei ist auch Jean-Marc Wunsch, der früher als Soldat für die französische Armee im Kongo im Einsatz war. In den 80ern war er noch bei den Kommunisten, erzählt er. Nun aber habe er eine zweite Familie gefunden. „Der Rassemblement National ist heute die einzig wahre Arbeiterpartei.“
Die TV-Debatte zwischen Macron und Le Pen vom Vorabend ist ebenfalls Thema. Von „unserem lieben Präsidenten“, sagt Apricena und kräuselt dabei die Lippen, sei sie sehr enttäuscht gewesen. Marine aber habe sich gut geschlagen, findet Apricena. Sie nennt die Präsidentschaftskandidatin nur beim Vornamen – ganz so, als wäre sie eine gute Bekannte. Auch das gehört zur Strategie. Der Name Le Pen taucht nicht mehr auf, in keinem Flyer, auf keiner Fahne, auch nicht im Programm. Zu sehr ist er mit dem alten, noch radikaleren Bild der Partei verknüpft. Stattdessen ist es jetzt die freundlich lächelnde „Marine“, die sich auf Fotos gern mit ihren Katzen zeigt.
„Ich bin nicht politisch, aber das beschäftigt mich“
Der Bus hält an dem kleinen Markt in Graçay. Gut besucht ist er an diesem Tag nicht, die Größe der Gruppe und des Busses wirken überdimensioniert. An knapp 20 Ständen gibt es Gemüse, Käse und Wurst aus der Region, auch Putzmittel und Kleidung ist im Angebot. Die Wahlkämpfer strömen auf den Markt und in die umliegenden Straßen aus, sprechen die meist älteren Besucher an. „Ohne ihn, mit Marine“, steht auf den Flyern, welche sie den Besuchern in die Hand drücken. Die Wörter „ohne ihn“ sind unterlegt mit einem düsteren Schwarz-Weiß-Bild von Macron, daneben die strahlende Le Pen in hellen Farben. Viele stecken die Broschüre ein.
Apricena steht an einem Stand mit Putzwaren und kommt mit der Verkäuferin ins Gespräch. Die sorgt sich um Renten, die zu niedrig seien, Schulen, die keine Kantine haben, und die medizinische Versorgung. „Seit Jahren arbeitet das medizinische Personal unter miserablen Bedingungen und wird überhaupt nicht unterstützt“, sagt Françoise, die ihren Nachnamen nicht nennt. Mehrere ihrer Familienmitglieder arbeiteten in dem Bereich – so habe sie es die vergangenen zwei Jahre immer wieder erlebt. Zum Guten aber ändere sich nichts. „Ich bin nicht politisch, aber das beschäftigt mich“, sagt sie. Apricena entgegnet daraufhin mit ruhiger Stimme: „Aber darum gehts doch, um die Dinge, die uns berühren.“
Die Sache mit Putin
Später, als Apricena nicht mehr in der Nähe ist, sagt Françoise, dass sie am Sonntag nicht wählen gehen werde – sie müsse auf ihre Enkelkinder aufpassen, erklärt sie. Aber sie überlege bereits jetzt, ob sie im Juni bei der Wahl zum Unterhaus des französischen Parlaments ihre Stimme abgebe. Von Macron und seiner Partei halte sie nichts. Ob sie dann den Rassemblement National wähle? Françoise zögert. „Ich weiß es noch nicht, ich bin eigentlich für keinen“, sagt sie und fügt hinzu: „Was mir bei Marine Angst macht, ist die Sache mit Putin.“
Es ist eines der Themen, mit denen der Rassemblement National in diesen Wochen seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am häufigsten konfrontiert wird. Zwar verurteilte Le Pen die Invasion und sagte der Ukraine ihre Unterstützung zu. Allerdings hatte sie ihre Nähe zu Putin auch immer offen zur Schau gestellt und 2014 die Annexion der Krim mit den Worten verteidigt: „Die Krim ist seit vielen, vielen Jahren russisch.“
Apricena nervt das Thema. Darauf angesprochen, holt sie ihr Handy heraus und zeigt eine Fotocollage. Zu sehen sind Bilder von Politikern, händeschüttelnd mit Putin. „Hier haben wir Chirac, Sarkozy, Hollande (Anm.: die vorherigen drei französischen Präsidenten), da haben wir Obama, Trump (Anm.: die zwei vorherigen US-Präsidenten) und Macron, Macron, Macron“, sagt sie, während sie auf die einzelnen kleinen Bilder zeigt. „Also, wo ist das Problem?“ Dass die Politiker zu der Zeit Präsidenten waren, Le Pen aber nicht, sieht sie nicht als Gegenargument. Le Pen habe ebenfalls eine wichtige Stellung und müsse sich natürlich mit anderen Politikern austauschen.
Tatsächlich aber gehen Le Pens Verbindungen zu Russland weit über Treffen unter „Kollegen“ hinaus. Die Partei hat einen offenen Millionenkredit bei einer Bank, die einem Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin gehört. Macron warf Le Pen bei der TV-Debatte deswegen an den Kopf: „Wenn Sie von Russland sprechen, dann reden Sie von Ihrem Banker.“
Ein Mann beschimpft die Wahlkämpfer
Auf dem Markt sind die Gefühle gemischt. Ein Mann, der sich einen Flyer mitnimmt, sagt zwar, dass er das Migrations- und Sicherheitskonzept von Le Pen gut finde. Aber für die Ökologie setze sie sich nicht genug ein. Ein anderer meint, die Partei sei schlicht rassistisch und unwählbar. Ein Weiterer fängt an, die Wahlkämpfer zu beschimpfen und bezeichnet sie mit Bezug auf die Nationalsozialisten als „SS“.
Es ist das Image, das Le Pen zu dieser Wahl eigentlich loswerden wollte. Ihr Vater noch war als Holocaustleugner bekannt, pöbelte gegen seine politischen Gegner, äußerte offen rassistische Theorien. „Ich habe Lärm und Wut satt“, sagte Marine Le Pen kürzlich dazu. „Ich habe Lust auf Effizienz und Ausgeglichenheit.“ Schaut man allerdings in ihr Programm, sieht man, wie einige Ideen überdauern.
Politik des „Franzosen zuerst“
Zwar stehen einige extreme Forderungen wie der Austritt Frankreichs aus der EU nicht mehr darin. Trotzdem setzt die Partei weiter auf eine nationalistische und diskriminierende Politik. So sollen Ausländer von Sozialleistungen ausgeschlossen werden, bei Wohnraum sollen Franzosen bevorzugt werden. Frauen soll das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit verboten werden. Und Geflüchtete sollen in Frankreich kein Asyl mehr beantragen dürfen, nur noch in ihren Heimatländern. Mit geltendem nationalen und europäischen Recht sind solche Vorschläge nicht vereinbar. Es ist nicht zuletzt diese Politik, „die Franzosen zuerst“, die vielen Sorge bereitet.
Fragt man die Wahlkämpfer an diesem Tag, ob der Entzug von Sozialleistungen und andere Regelungen auch für die Geflüchteten aus der Ukraine gelten sollen, finden sie eine klare Antwort. „Das sind Kriegsflüchtlinge, sie sind europäisch“, sagt Apricena und fügt hinzu: „Es ist doch normal, wenn ein Land seine Frauen, Kinder und Alten sendet, dass wir dann helfen.“ Und das gilt für Syrer nicht? „Da kommen ja nur Männer“, sagt Apricena. Es ist dieselbe Argumentation, die auch Le Pen nutzt – ganz so, als würde das Menschenrecht nur für Frauen und Kinder gelten. Offizielle Zahlen widerlegen die Aussage zudem: Von den 21.000 syrischen Geflüchteten in Frankreich sind nur etwas mehr Männer als Frauen.
„Hier sind wir aber im tiefen Frankreich“
Auf dem Markt in Graçay steht an diesem Tag noch jemand, der sich nicht besonders über die Anwesenheit von Le Pens Wahlkämpfern freut. Adrien Baert ist ebenfalls auf Wahlkampfmission, allerdings denkt er bereits weiter als bis zum Wahlsonntag. Er gehört zu den Republikanern, der Partei des früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy und der Schwesterpartei der Union. Seine Kandidatin für die Präsidentschaftswahl, Valérie Pécresse, kam nicht einmal auf fünf Prozent. Baert wirbt nun um Stimmen für die Wahl des Unterhauses des französischen Parlaments.
„In unserer Gegend kümmern sich die Menschen nicht um eine politische Etikette“, sagt er. „Sie wollen jemanden, auf den sie zählen können, der dieselbe Sprache wie sie spricht.“ Baert kommt selbst aus der Gegend und wird von einem lokalen Landwirt begleitet, der seine Kandidatur unterstützt. „Sie sind sicher aus einer großen Stadt, Berlin?“, fragt Baert die t-online-Reporterin. „Hier sind wir aber im tiefen Frankreich.“
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Und was heißt das? „Die Leute sind ein wenig verzweifelt“, erklärt er. „Deswegen klammern sie sich an Politiker wie Marine Le Pen.“ Es brauche Politiker vor Ort, die nahe an den Menschen sind, die ihre Probleme verstehen, die das Leben auf dem Land weiterentwickeln wollen. Die Menschen aber, da ist sich Baert sicher, teilten die Ideen des „Front National“ nicht. Baert nennt die Partei nur bei ihrem alten Namen.
Es geht zurück nach Vierzon, dem Ausgangsort der Reise. Die Gruppe ist gut gelaunt, sie werten den Tag als erfolgreich. Als der Bus zurück durch die Rapsfelder fährt, wird er immer wieder angehupt – einige winken, sehr zum Wohlgefallen der Gruppe. Andere zeigen den Mittelfinger.
Verwendete Quellen:
- Beobachtungen vor Ort
- Le Monde: Die Ergebniskarte des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen 2022 (französisch)
- L’Express: Augenärzte, Kardiologen … Fachärztemangel als blinder Fleck der Gesundheitspolitik (französisch)