Harald Kujat

Stell Dir vor, es gibt Krieg – und Du hast keine Armee

Lesedauer: 8 Minuten
Lange vernachlässigt und nun wieder gefordert: Fähigkeiten zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung - Foto: Action press

Als Reaktion auf den russischen Angriff gegen die Ukraine kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende auch für die Bundeswehr an. Doch wie sollte diese aussehen? Was braucht eine Truppe, die in den vergangenen Jahren schwerwiegend vernachlässigt worden ist?

Der russische Angriff auf die Ukraine hat das Sicherheitsgefühl der Deutschen und ihrer führenden Politiker massiv erschüttert. Noch vor wenigen Wochen, ja Tagen, als der Krieg noch nicht ausgebrochen war, hatte es die Bundesregierung abgelehnt, sich in der Ukraine-Krise mit Waffenlieferungen zu engagieren – und war dafür im In- und Ausland als unentschlossen und zögerlich kritisiert worden. Grund für die deutsche Haltung war die Absicht, nicht zu einer Eskalation beizutragen. Obwohl die Ukraine nicht Mitglied der NATO ist, wurden sogar Zweifel an der Bündnissolidarität Deutschlands geäußert.

Dem hat Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Bundestages zum Ukraine-Krieg am 27. Februar mit einer aufsehenerregenden Rede ein Ende gesetzt. Der Bundeskanzler sprach mit Blick auf den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine von einer Zeitenwende. Und in der Tat bedeuten die als Reaktion auf den Angriff angekündigten Maßnahmen nicht weniger als eine 180-Grad-Wende der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. 

Facetten eines Richtungswechsels 

Seither beliefert Deutschland die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf mit Waffen. Der Bundeskanzler erklärte sich bereit, die Herausforderung anzunehmen, die aus dem Risiko einer Ausweitung des Krieges entstehen könnte, indem Deutschland wieder zu einem wehrhaften Verbündeten in der Nordatlantischen Allianz wird. Im Kern geht es darum, die Bundeswehr wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen.

Offenbar hat der Ukraine-Krieg nicht nur der Regierungskoalition, sondern auch der CDU/CSU, die bisher Verantwortung für Deutschlands Sicherheit trug, die Augen dafür geöffnet, dass die Bundeswehr keinen angemessenen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung leisten könnte, sollte aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine, ein europäischer Krieg, werden. 

Als Maßstab für die künftige Ausrichtung der Bundeswehr bezeichnete der Bundeskanzler die militärischen Fähigkeiten, die notwendig sind, um einer Bedrohung durch Russland zu begegnen. Man muss einschränkend hinzufügen, dass dies nicht absolut gemeint sein kann, sondern als deutscher Beitrag zu einer gemeinsamen Verteidigung Europas durch die NATO zu verstehen ist. Es bedeutet jedoch, dass Deutschland künftig Verantwortung für die eigene Sicherheit und die unserer Verbündeten in einer Weise übernehmen wird, die der Größe und der Wirtschaftskraft unseres Landes angemessen ist. Deutschland wächst damit auch ein größerer Einfluss auf die Sicherheitspolitik und die Strategie der Nordatlantischen Allianz zu. Ob die deutsche Politik dieser Herausforderung gewachsen ist, wird sich schon bald zeigen, denn im Juni soll das neue strategische Konzept der Allianz beschlossen werden. 

Ursachen der derzeitigen Notlage 

Laut Bundeskanzler soll die Bundeswehr eine „bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal“ erhalten. Die sicherheitspolitischen und geostrategischen Herausforderungen zwingen dazu, Aufgaben, Fähigkeiten und Mittel wieder in Einklang zu bringen. Die dafür erforderlichen finanziellen Voraussetzungen wird die Bundesregierung schaffen. Bereits 2022 wird der Bundeshaushalt einmalig mit einem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ausgestattet, um die dringend notwendigen Investitionen und Rüstungsvorhaben zu realisieren. Außerdem sollen ab sofort jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Verteidigung investiert werden. Damit wird das NATO-Ziel erfüllt, zu dem sich die Bundesregierung 2014, 2016 und 2018 verpflichtet hat. 

Der jetzige desolate Zustand der Truppe ist in erster Linie eine Folge der Bundeswehrreform 2011. Nachdem der Anteil der Wehrpflichtigen aus finanziellen Gründen Jahr für Jahr reduziert wurde, ist die Wehrpflicht aus Gründen der Wehrgerechtigkeit ausgesetzt, de facto abgeschafft worden. Im gleichen Jahr wurde mit der sogenannten Neuausrichtung der Bundeswehr ein einschneidender Richtungswechsel vollzogen: vom Verfassungsauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zu Auslandseinsätzen. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 27. Mai 2011 heißt es: „Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln ist unverändert unwahrscheinlich… Die wahrscheinlichen Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung bestimmen die Grundzüge der neuen Struktur der Bundeswehr.“ 

Diesem konzeptionellen Ansatz lag das Missverständnis zugrunde, die sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen blieben unverändert stabil. Tatsächlich deutete sich schon 2008 durch den russisch-georgischen Krieg eine Änderung an. Und 2014, noch bevor die Reform vollständig umgesetzt war, hatte sich die Sicherheitslage in Europa durch die russische Annexion der Krim grundlegend geändert. Der durch die Verfassung gesetzte Kernauftrag der Bundeswehr – Landes- und Bündnisverteidigung gemäß Artikel 87a und 24 (2) – ist jedoch unveränderbar und verbindlich für jede Bundesregierung, unabhängig davon, wie sie die jeweilige außen- und sicherheitspolitische Lage beurteilt. Deshalb ist die damalige Neuausrichtung der Bundeswehr nicht nur außen- und sicherheitspolitisch, sondern auch verfassungsrechtlich kritisch zu beurteilen – während der sich nun abzeichnende Weg eine Rückbesinnung auf einen Kernauftrag unserer Verfassung bedeutet. 

Zur Landes- und Bündnisverteidigung fähige und einsatzbereite Streitkräfte können auch für die Konfliktverhütung und Krisenbewältigung eingesetzt werden – umgekehrt ist das nicht der Fall. Ein weiterer Aspekt, der für die Fokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung spricht, ist die unterschiedliche Ausgangslage. Die Entscheidung, ob, in welchem Umfang und in welchem multinationalen Rahmen der Bundestag auf Antrag der Bundesregierung einen Einsatz zur Konfliktverhütung oder Krisenbewältigung billigt, wird von den nationalen Interessen Deutschlands bestimmt. Dagegen wird die Entscheidung über den Verteidigungsfall vom Aggressor durch seinen Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität Deutschlands oder eines Verbündeten getroffen. 

Akute Herausforderungen 

Obwohl sich die außen- und sicherheitspolitische Lage seit 2014 ständig weiter verschlechterte, wurde in den letzten Jahren keine ernsthafte Kurskorrektur vorgenommen, sondern lediglich der Eindruck einer Umsteuerung durch populistische „Trendwenden“ erweckt. Deshalb ist die Bundeswehr heute nicht in der Lage, einen angemessenen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten. Zurecht hat der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, kürzlich knapp und treffend formuliert: „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ 

Die Bundeswehr muss sich nun einer zweifachen Herausforderung stellen. Zum einen müssen die seit Jahren bestehenden Materiallücken geschlossen werden, insbesondere, um die Fähigkeit zur Teilnahme an Einsätzen der NATO-Response Force zu verbessern und den deutschen Beitrag zu erhöhen. Dazu gehört vorrangig die persönliche Ausrüstung und im Grunde alles, was kurzfristig verfügbar gemacht werden kann, um die Einsatzbereitschaft zu verbessern. Allein für die Auffüllung der Munitionsbestände auf die Höhe der NATO-Forderungen werden fast 20 Milliarden benötigt. Dazu müssen die Beschaffungsverfahren nicht erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Das Beschaffungswesen ist oft gerändert worden, weil die politisch Verantwortlichen um dessen Fallstricke wussten und sie vermeiden wollten, was häufig nicht zur Vereinfachung und Beschleunigung beitrug. Bewährt hatte sich die Einrichtung eines Rüstungsrates unter Leitung des Generalinspekteurs, weil Fähigkeits- und Rüstungsplanung in einer Hand zusammenliefen. Der Rüstungsrat wurde von einer Integrierten Arbeitsgruppe Fähigkeitsanalyse (IAGFA) unterstützt, die als Kompetenzzentrum alle mit Fähigkeits- und Rüstungsplanung befassten Bereiche des Ministeriums integrierte. 

Wiederherstellung strategischer Fähigkeiten 

Die zweite, größere Herausforderung ist eine umfassende Reform der Struktur der Streitkräfte, des Personalumfangs, der Ausrüstung sowie der Bewaffnung und Ausbildung mit dem Ziel, die Bundeswehr wieder zur Erfüllung ihres verfassungsmäßigen Auftrags der Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen. Die von den Koalitionsparteien vereinbarte nationale Sicherheitsstrategie sowie die daraus abgeleiteten neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien und die entsprechende Bundeswehrkonzeption bilden die konzeptionelle Grundlage der Bundeswehrreform. 

Ein entscheidender Schritt zu aufgabengerechten, leistungsfähigen Streitkräften sind strukturelle Veränderungen, um die Kampfverbände durch schwere und mittlere Kräfte zu verstärken und strategische Fähigkeiten wiederherzustellen, die, wie beispielsweise die Heeresflugabwehr und die Marineflieger im Zuge der Neuausrichtung 2011 aufgegeben wurden. Verstärkt werden sollten die strategische Aufklärungs- und Verlegefähigkeit sowie die Schaffung weiterer Fähigkeiten durch neue Technologien. Die neue Streitkräftestruktur muss aufwuchsfähig konzipiert werden, damit Reservisten reibungslos in ihre Stammverbände integriert werden können und der Verteidigungsumfang durch Reserveverbände erhöht werden kann. Dazu sollte eine leistungsfähige Territorialstruktur für den Heimatschutz und die Unterstützung der alliierten Verbände in der Verbindungszone geschaffen werden. 

Wehrpflichtdebatte und Beschaffungsvorhaben 

Es ist absehbar, dass die erforderliche Erhöhung des Personals um mindestens zehn Prozent über den bisher angestrebten Personalumfang erhebliche Schwierigkeiten bereiten wird. Erwartungsgemäß hat deshalb auch bereits eine Diskussion über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder eine allgemeine Dienstpflicht eingesetzt. Immerhin hat die Wehrpflicht dazu beigetragen, dass die Bundeswehr ihren Regenerationsbedarf an Freiwilligen zu mehr als fünfzig Prozent aus dem Wehrpflichtaufkommen decken konnte. Ob die Wehrpflicht politisch und gesellschaftlich unterstützt wird, ist jedoch zweifelhaft, zumal dann, wenn nicht weitgehende Wehrgerechtigkeit erreicht wird. 

Der Bundeskanzler hat in seiner Bundestagsrede bereits konkrete Beschaffungsvorhaben genannt. Dazu gehören die bewaffnete Drohne, das Kampfflugzeug F-35 als Tornado-Nachfolger ebenso wie die Entwicklungsprojekte der nächsten Generation Kampfflugzeuge, Kampfpanzer und die Eurodrohne. Dringend erforderlich ist auch die Beschaffung eines schweren Transporthubschraubers. Das Heer wartet auf den Schützenpanzer Puma, denn der Bedarf der Truppe ist gegenwärtig nur zu fünfzig Prozent gedeckt. Außerdem braucht das Heer einen modernen Kampfhubschrauber, und der Marine fehlen vor allem Fregatten, Korvetten und U-Boote. 

Es bleibt zu hoffen, dass die politische und gesellschaftliche Unterstützung der neuen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik auch nach dem hoffentlich bald endenden Krieg Bestand hat. Denn eine neue europäische Sicherheits- und Friedensordnung zu schaffen, bleibt die große Herausforderung der Zukunft. Die Möglichkeiten, diese auch im deutschen Interesse mitzugestalten, sind erheblich gewachsen. 

• General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.

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