Wer von deutscher Zukunftsfähigkeit spricht, koppelt das derzeit gern an Weltoffenheit. Dabei bleiben die Probleme im eigenen Land ungelöst.
Deutschland will weder länger ein Nationalstaat sein, der für seine eigenen Interessen eintritt, noch erweist es sich als ein verlässlicher Verbündeter in der EU und der Nato. Die global denkenden Eliten Deutschlands fühlen sich weniger ihrem Land und ihren Bündnissen als der «einen Welt» verpflichtet. Ihre nationale Identität liegt im gemeinsamen Bekenntnis zur Globalität, in der sie an Luftschlössern ohne Mauern bauen.
Bereitwillig opfert man Partikularinteressen von Autoindustrie und Energieverbrauchern. Rechte der Staatsbürger werden den Menschenrechten untergeordnet, statt Patriotismus und Gemeinwohl gilt die Weltoffenheit. Die Bejahung offener Grenzen war die Grundlage für das Bündnis von Global Playern der Wirtschaft mit den global agierenden Nichtregierungsorganisationen und deren Humanitarismus. Das Outsourcing der einen ist die freie Zuwanderung der anderen.
Dem Anspruch auf Zukunftsfähigkeit fiel die Gegenwart zum Opfer – mit schwerwiegenden Folgen für die Infrastruktur, die öffentliche Verwaltung oder etwa den Hochwasserschutz im Ahrtal. Angesichts eines fast hochmütigen globalen deutschen Engagements blieb kein Geld mehr für die Sanierung von Brücken. Die Deutschen begleichen die Rechnungen weiter, aber die Spaltung zwischen Global und Local Playern, zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Globalität, wird immer grösser.
Anywheres und Somewheres
Längst ist auch der ortsgebundene Mittelstand dem Erfolg von Amazon schon deshalb nicht mehr gewachsen, weil man seinerseits die Steuer nicht europaweit optimieren kann. Die sozial-kulturelle Spaltung verläuft nicht zwischen links und rechts, wie es die Altideologen gerne hätten, sondern zwischen mobilen Anywheres und den gebundenen Somewheres.
Die ersten Versuche einer Rettung vor dem Globalismus reichen vom Wutbürgertum der Gelbwesten oder eines Donald Trump bis hin zur Flucht der Brexiteer aus der europäischen Solidarität. Bei ihnen handelte es sich nur um Antithesen. Statt neuer Absprachen in westlichen Bündnissen zogen die Aktivisten bloss die nationale Karte. Von der Utopie zur Regression – sollte es dazwischen nicht mittlere internationale Wege geben?
Die gemeinsame Suche in demokratischen Diskursen bleibt aber aus, weil die Ängste vor der Weltoffenheit diskreditiert und abgedrängt wurden. Über dieses Diskursversagen wird die offene Gesellschaft – statt gegenüber ihren äusseren Feinden – nur gegenüber denjenigen verteidigt, die im Grunde mehr Protektion einfordern. So treibt die ausbleibende demokratische Willensbildung die Polarisierung voran.
Deutschland als Klima-Avantgarde?
Sowohl mit dem Ausstieg aus der Kernenergie als auch mit immer neuen Massnahmen gegen den Klimawandel gehen die deutschen Apokalyptiker voran. Doch kaum ein Land scheint ihnen folgen zu wollen. Wenn fast ein Drittel des weltweiten CO2-Ausstosses auf das Konto Chinas geht, ist die Verbesserung der deutschen Energiebilanz allerdings vergeblich. Schlimmer noch: Sie verschlechtert nur die eigene Wettbewerbsfähigkeit.
Als selbsternannte Avantgarde bezahlen die Deutschen dafür mit den höchsten Energiepreisen der Welt – und mit weiteren Dekonstruktionen der Industriegesellschaft. Wenn endzeitliche Klimaaktivisten die Strassen blockieren, hindern sie die Leute an der Arbeit mit all ihren gegenwärtigen Aufgaben.
Die Paradoxie des National-Globalismus wird mit der Ernennung der Greenpeace-Chefin zur Staatssekretärin im deutschen Auswärtigen Amt auf den Punkt gebracht: Ihr Auftrag ist es, nationale Interessen dem globalen Klimaschutz unterzuordnen, statt deutsche Interessen mit den internationalen Lasten des Klimaschutzes abzugleichen. Europaweite Abkommen lässt dieser Globalismus hinter sich.
Die Europäische Union wurde auch über die freiwillig vorangetriebene Energieabhängigkeit von Russland übergangen. Ein Aus für Nordstream 2, wie es die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock Russland in der Ukraine-Krise meint androhen zu können, würde für Deutschland das Energie-Blackout bedeuten. Der Preis der Unabhängigkeit von Kern- und Kohlekraftwerken ist eine umso grössere Abhängigkeit von russischem Gas und Öl.
Der deutsche Sonderweg hat uns in der Grenz-, Energie- und Aussenpolitik zum Geisterfahrer des Westens gemacht.
Von der Gemeinsamkeit zur Gegenseitigkeit
Wem nützt der Globalismus? Die Globalisierung hat die Welt nicht freier gemacht. In ihrer naiven Form wurde sie vielmehr von autoritären Regimen dazu ausgenutzt, ihre Macht sowohl gegenüber den eigenen Bürgern als auch gegenüber dem Westen zu stärken. Auch die Ursachen der endlosen Misserfolge in der Entwicklungshilfe für Afrika mit den dortigen korrupten Oligarchien werden von Globalisten nicht thematisiert, weil dies sowohl die eigenen Illusionen von einer globalen Gleichheit als auch die Geldflüsse für eigene Projekte behindern würde.
Für Differenzierungen ist das globale Denken wenig geeignet. Unterscheidungen nach Qualifikation und Herkunft von Zuwanderern sind bereits «Rassismus», obwohl sie in Wirklichkeit den Unterschied für Arbeitsmarkt und Sozialstaat ausmachen. In der «einen Menschheit» gelten alle Kulturen als gleich, und wenn und wo noch nicht, muss dies an unserer Unterdrückungspraxis liegen. Ein fast schon anthroposophisch geprägter Multilateralismus träumt von globalen herrschaftsfreien Diskursen.
Wer rettet die Deutschen vor sich selbst?
In einer nicht globalen, sondern multipolaren Welt wird hingegen mehr Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung gefordert sein. Statt globaler Gleichheit und Gemeinsamkeit brauchte eine von Gegensätzen durchzogene Welt den Aufbau neuer realistischer Gegenseitigkeiten.
Die sich infolge der Corona-Pandemie beschleunigende Deglobalisierung hat schon einiges zurechtgerückt. In einer zuvor hemmungslos entgrenzten Staatenwelt mussten immer mehr innere Grenzen gezogen werden. Unterbrochene Lieferketten lehren mehr Vorsicht. An einem selektiven Protektionismus zumindest bei lebenswichtigen Produkten führt kein Weg mehr vorbei.
Der deutsche Globalismus hat sich in so tiefe Widersprüche verstrickt, dass uns nur noch gute Freunde daraus befreien können. Etwa die EU-Kommission, welche die Kernenergie neuerdings als grüne Technologie einstuft. Auch die spezifisch deutsche Willkommenskultur wird von den europäischen Nachbarländern nicht geteilt. Die Ampelregierung will illegale Zuwanderung nicht bekämpfen, sondern legalisieren. Dagegen fühlen sich die anderen europäischen Staaten auch ihren Nahinteressen verpflichtet.
Auch hinsichtlich Migration und Integration läge der mittlere Weg zwischen Nationalismus und Globalismus in kontrollfähigen europäischen Grenzen und in einem gemeinsamen Asylgesetz. Der europäische Binnenmarkt sollte dort Schutzräume bieten, wo sie zum Aufbau fairer Gegenseitigkeiten mit China notwendig sind. Die europäische Solarenergie wäre damit vielleicht zu retten gewesen.
«Bürger» kommt von «Burg»
Die Europäische Union darf ihrerseits nicht mehr den Agenten der Globalisierung geben und die Aufhebung von nationalen Schutzsystemen fordern. Emmanuel Macrons «Europa, das schützt» müsste mehr Dezentralität nach innen gestatten und umgekehrt mehr Einheit und Stärke nach aussen zeigen. Die Europäer müssen den Deutschen die Neigung zu romantischen Überhöhungen der Realität ausreden und sie in sicherere Bahnen zu lenken versuchen.
Der Weltbürger ist ein Widerspruch in sich. «Bürger» kommt von «Burg». Der heute allerdings geforderte glokale Bürger wäre zugleich Patriot, Europäer und Atlantiker. Er würde sich statt nur dem Weiten auch wieder dem Nahen – seiner Umwelt zum Beispiel – zuwenden. Und auf die Strassenschläue der kleinen Leute, die sich im Alltag zu behaupten haben, können Demokratien nicht länger verzichten. Mehr als all die Akademiker, die uns heute in Deutschland regieren, sind sie in der Lage, die ideologisierte Weltoffenheit um Realitätsoffenheit zu ergänzen.
Heinz Theisen ist Politikwissenschafter. Demnächst erscheint «Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen» im Lau-Verlag, Reinbek.