Das Wort Defensivwaffen suggeriert, als gäbe es Waffen, die nur der unschuldige Verteidiger nutzen kann. So wie die Panzerabwehrraketen für Kiew. Das stimmt nicht – auch Abwehrsysteme werden offensiv genutzt.
Was wurde zum Symbol der Wehrmacht, als die Deutschen die Welt überfielen? Der charakteristische Stahlhelm vom Typ M35 und seine Nachfolger – leicht zu erkennen anhand der Krempe über den Augen, dem Nackenschutz und seiner die Ohren bedeckenden Form. Ein SCHUTZ-Helm. Und was war die gefürchtetste Kanone der Deutschen? Die Acht-Acht in ihren verschiedenen Varianten. Eine Flug-ABWEHR-Kanone.
Kein Aggressor ohne Defensivwaffen
Viele Staaten liefern Panzerabwehrraketen nach Kiew – mit der Begründung, dass diese Defensivwaffen nur der Verteidigung dienen. Die beiden Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg machen deutlich, dass das Gerede von Defensiv- oder Abwehrwaffen wenig sinnvoll ist. Und diese Einteilung überhaupt nichts damit zu tun hat, wer in einem Konflikt nun Angreifer oder Verteidiger ist. Die klassische Einteilung geht ohnehin etwas anders vor. Man unterscheidet zwischen Schutz- und Trutzwaffen. Schutzwaffe war früher Harnisch, Helm und Schild. Heute könnte man das in Schutzwesten, Gräben und Bunker und Ähnliches übersetzen. Der Begriff Trutzwaffen ist veraltet, man spricht heute einfach von Waffen. Die sind nicht zum Schutz wie eine Panzerung gedacht, sondern um dem Gegner Schaden zuzufügen.
Es ist offenkundig, dass auch der Angreifer seine Truppen mit Schutzwesten, Helmen und Ähnlichem ausstattet. Es ist daher sinnlos, Schutz- oder defensive Systeme mit friedlichen Absichten zu übersetzen. Umgekehrt kann eine Verteidigung keinen Erfolg haben, die nur auf Schutz der eigenen Leute setzt und keine Waffen besitzt, die den Gegner bekämpfen. Im Einsatz werden Schutz- und Trutzsysteme immer kombiniert. Der Panzer transportiert eine Kanone, die er wiederum mit seiner Panzerung schützt. Der Infanterist bekämpft den Gegner mit Sturmgewehr, Granaten etc. und nimmt dabei Schutzhelm und -weste mit in den Einsatz.
Jom-Kippur-Krieg
Bei den vieldiskutieren Panzerabwehrraketen handelt es zudem nicht um Schutzsysteme. Es sind einfach Waffen. Sie dienen der Infanterie sowohl des überfallenen wie auch des aggressiven Staates zur Bekämpfung gepanzerter Fahrzeuge auf große Distanzen. Sie können zur Abwehr eines Angriffs oder zur Durchführung einer Angriffsoperation dienen. Die modernen Panzerabwehrraketen (ATGM Anti Tank Guides Missiles) betraten 1973 die Weltbühne – im Jom-Kippur-Krieg. Aber sie wurden nicht von den israelischen Verteidigern genutzt. Ägyptische Infanteristen schossen im Sinai israelische Panzer reihenweise mit Panzerabwehrraketen aus sowjetischer Produktion ab. Die israelischen Panzersoldaten waren schlicht nicht auf die kleinen Raketen vom Typ 9K11 Maljutka („Winzling“) vorbereitet, die auf 3000 Meter Entfernung ihre Panzerung durchschlagen konnten. Die verstärkte Panzerdivision von General Albert Mandler verlor innerhalb kurzer Zeit 200 Panzer.
Luftverteidigung könnte Kiew abschneiden
Rund um die Ukraine hat Putin heute Luftverteidigungssysteme verschiedener Reichweiten aufgebaut. Doch ihr Potenzial muss keineswegs die Verteidigung im landläufigen Sinne sein. Sie würde im Falle einer Invasion primär nicht Mütterchen Russland schützen, sondern einen Schutzschirm über die angreifenden Bodentruppen aufspannen. Die „Abwehrraketen“ vom Typ S-400 haben außerdem eine große Reichweite. Stationiert in Belarus könnten sie den Luftraum über der westlichen Ukraine sperren und Kiew so von Nachschub abschneiden und es der technisch veralteten Luftwaffe Kiews unmöglich machen aufzusteigen. Eine wahrhaft offensive Aufgabe eines Abwehrsystems. Selbst „Minen“ können offensiv verwandt werden, wenn sie von Werfern ausgelegt werden. Dann behindern sie die Bewegungen des Gegners oder verwandeln seine Stellung in eine Todesfalle.
Politische Kategorien
Die Begriffe Angreifer und Verteidiger resultieren aus einer politischen oder strategischen Einordnung, sie spiegeln nicht die Realität auf dem Gefechtsfeld wider. Auch die Seite, die im Großen und Ganzen zurückweicht und in die Defensive gedrängt wird, kann punktuell zur Offensive übergehen. In dieser Operation werden die „Angreifer“ dann zu Verteidigern. Um zum Zweiten Weltkrieg zurückzukehren: Hier war Deutschland der angreifende Staat, doch wurde er seit 1943 an allen Fronten in die Verteidigung gedrängt.