Deutschland debattiert über die Impfpflicht – Frankreich hat sie de facto eingeführt. Die Folge: Wütende Massenkundgebungen, auf denen Vergleiche mit Nazi-Methoden gezogen werden. Nur Marine Le Pen muss kleinlaut ein Geständnis ablegen.
Die Stimme von Joseph Szwarc zitterte, als er den Ausdruck des Fotos eines gelben Sterns mit Aufschrift „sans vaccin“ (ohne Impfung) in die Höhe hielt. „Ich bin erschüttert und empört“, sagte der 94-jährige Holocaustüberlebende am Sonntag bei einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Rafle du Vélodrome d’Hiver. Der alte Mann bezog sich auf Proteste von Impfgegnern gegen die neuen Regeln für Nicht-Geimpfte, die eine „Gesundheitsdiktatur“ kritisieren.
Am Wochenende hatten in Frankreich rund 114.000 Impfgegner gegen die von Emmanuel Macron angekündigten Regeln protestiert. Einige hatten sich einen gelben Stern mit der Anti-Vax-Parole angeheftet, der auch in den sozialen Medien kursierte. „Mir sind die Tränen gekommen“, gestand Szwarc, „ich selbst habe diesen gelben Stern tragen müssen, ich weiß, was das heißt, ich trage ihn noch immer unter meiner Haut“.


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Zu hören und zu lesen waren außerdem Parolen wie „Nein zum Nazi-Pass“ oder „Als nächster Schritt die Razzia der Ungeimpften“, mit Anspielung auf die berühmte „Rafle du Vel d’Hiver“, bei der am 16. Und 17. Juli 1942 mehr als 8000 jüdische Frauen, Männer und Kinder tagelang in der Radrennbahn vor ihrer Deportation festgehalten wurden. Ebenso waren Fotomontagen des Auschwitz-Tores zu sehen mit der Inschrift „Der Gesundheitspass macht frei“, auch Macron-Porträts mit Hitlerbärtchen.
Nur eine kleine Minderheit
Es handelt sich bei den Protesten um eine kleine Minderheit. Denn nicht einmal eine Woche, nachdem Präsident Macron die Einschränkung des öffentlichen Lebens für Ungeimpfte angekündigt hatte, stürzten sich 3,7 Millionen Franzosen auf freie Impftermine. Die Zahl der Erstimpfungen sprengte vergangene Woche alle Rekorde. Auch Umfragen zeigen, dass die klare Mehrheit der Befragten (62 Prozent) für die Einschränkungen ist, die de facto einer Impfpflicht gleichkommen.
Denn für Restaurantbesuche, Bahnfahrten und den Einkauf in über 20.000 Quadratmeter großen Einkaufszentren wird ab Mittwoch der Nachweis einer kompletten Impfung, einer Genesung oder eines negativen Covid-Tests verlangt, die ab Herbst nicht mehr umsonst sein werden. 69 Prozent befürworten laut derselben Umfrage die Impfpflicht für medizinische Pflegekräfte, denen die Regierung ab Mitte September mit Gehaltsstopp droht, wenn sie sich nicht impfen lassen.
Macron setzt jetzt alles daran, die neuen Regeln wie angekündigt umzusetzen. Am Montagabend sollte in einem extra vorgezogenen Ministerrat das neue Gesetz beraten werden, über das noch diese Woche im Schnellverfahren erst im Parlament, dann im Senat abgestimmt werden soll. In einem letzten Schritt soll es der französische Verfassungsrat auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung prüfen. Bereits im Vorfeld haben knapp 400 Kommunalpolitiker und Abgeordnete aus verschiedenen Parteien in einem Gastbeitrag einer Sonntagszeitung Macrons Maßnahmen begrüßt.
Frankreich habe keine andere Wahl, warnte Regierungssprecher Yvan Attal. „Entweder es gibt eine Impfung für alle oder einen viralen Tsunami“, so Attal in einem Interview mit der Zeitung „Le Parisien“. Der Inzidenz-Wert ist in Frankreich innerhalb einer Woche um mehr als 80 Prozent gestiegen. Er liegt jetzt landesweit bei 63,5 Infizierten pro 100.000 Einwohnern. In bestimmten Regionen wie den Pyrénées-Orientales nahe der spanischen Grenze ist die Inzidenz innerhalb einer Woche von 41,5 auf 289,8 gestiegen.


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Neben den friedlich verlaufenden Demonstrationen mit Nazi-Parolen wurden in Frankreich am Wochenende auch zwei Impfzentren beschädigt. In Urrugne im Baskenland ist ein Impfzelt angezündet worden. In Lans-en-Vercors wurden Parolen wie „vaccin=génozide“ (Impfung=Völkermord) auf das Tourismusbüro gesprayt. Auch das Impfzentrum des Ortes haben Vandalen unbrauchbar gemacht, wie der Bürgermeister Michaël Kraemer gegenüber der Zeitung „Le Monde“ berichtete.
Die „zweifelhaften und widerlichen Vergleiche“ der Impfung mit der Nazidiktatur zeuge von „mangelnder Bildung und fehlendem Respekt angesichts der Geschichte des Vercors“, so Kraemer, der daran erinnerte, dass die Region eine der Résistance-Hochburgen während des Zweiten Weltkriegs war.
Gelbwesten in der ersten Reihe
Die französische Version der sogenannten „Querdenker“ mag auf den ersten Blick bunt erscheinen, weil sich bei den Demonstrationen Rechts- wie auch Linkspopulisten, aber auch prominente Vertreter der Gelbwestenbewegung versammeln. So demonstrierte Jaceline Moraud, eine der Gelbwestenikonen, in erster Reihe in Paris. Florian Philippot, einst Stellvertreter von Marine Le Pen, der nach der Trennung vom Rassemblement National (RN) in politischer Bedeutungslosigkeit versank, versucht ebenfalls, die Bewegung für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
Marine Le Pen gab wiederum Anfang Juli am Rande des Parteitages des RN erst nach hartnäckigem Nachfragen von Journalisten zu, doppelt geimpft zu sein. Sie hütete sich allerdings, eine Impfempfehlung für ihre Anhänger auszusprechen. Nach einer Studie des Forschungsinstituts CEVIPOF der Universität SciencesPo sind die Impfgegner in größerer Zahl unter den Wählern des rechts- oder linksextremen Spektrums anzutreffen. Fast die Hälfte der Sympathisanten von Le Pens RN (47 Prozent) wollen sich laut der Studie nicht impfen lassen.
Die Impfskepsis geht einher mit einem Vertrauensverlust in Wissenschaft, Staat, seine Institutionen, aber auch in Nachbarn und sogar Familienangehörige, sagt die Politikwissenschaftlerin Virginie Tournay, die die Studie betreut hat. Die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit habe deutlichen Einfluss auf das Impferhalten. So sei unter Impfgegnern das Gefühl weitverbreitet, nicht mehr Teil der Nation zu sein. „Sie vermögen nicht mehr den Gemeinsinn zu erkennen“, sagt Tournay im Gespräch mit WELT.
Macron zeigte am Rande der Tour de France „Verständnis und Respekt“ für Impfgegner und betonte, die Lage beruhigen zu wollen. „Die Freiheit des Einzelnen hängt aber auch vom Gemeinsinn seines Nächsten ab. Wir sehen darin, was eine Nation ausmacht“, so der Präsident. Er gab damit zu bedenken, dass die von Impfgegnern geforderte individuelle Freiheit durch die Impfung der Anderen erkauft wird.