Bundesweit fehlen zehntausende Handwerker. Schon jetzt bekommen die Deutschen das im Alltag zu spüren – etwa wenn sie ein Haus bauen wollen oder die Heizung kaputt ist. Und das Problem dürfte sich weiter verschärfen. Die Betriebe müssen jetzt radikale Antworten finden.
Franz Brückner ist auf der Suche. Der 33-Jährige ist kaufmännischer Leiter der Firma Brückner Haustechnik im fränkischen Erlenbach mit acht Mitarbeitern. Der Betrieb will wachsen. Und dafür braucht Brückner Fachkräfte, die sich für Sanitäranlagen und Heizungen begeistern.
Doch die zu finden ist äußerst schwierig. „Die Berufe haben immer noch den Ruf, dass sie wenig attraktiv sind“, sagt Brückner. „Der Coolnessfaktor fehlt.“ Es gebe viele Industrieunternehmen in der Gegend, Procter & Gamble zum Beispiel, die einen größeren Reiz ausübten.
Tatsächlich ist im zuständigen Arbeitsagenturbezirk Würzburg der Mangel an Handwerkern insgesamt groß: Rund 70 Prozent der offenen Stellen konnten im vergangenen Jahr rein rechnerisch nicht besetzt werden – so viele wie in nur wenigen anderen Bezirken.


Quelle: Sven Cichowicz
Die Region ist damit besonders stark von einem Problem betroffen, das allerorts besteht: Deutschland gehen die Handwerker aus – und zwar in allen Bereichen, vom Klempner bis zur Metallbau-Führungskraft. Das hat teilweise branchenspezifische Gründe. Aber allen Handwerksberufen gemein ist: Der Nachwuchs fehlt, und die Betriebe müssen mit neuen Ideen und attraktiveren Konditionen Auszubildende gewinnen.
Eine noch unveröffentlichte Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, die WELT AM SONNTAG vorlag, zeigt das Ausmaß der Lücke. 65.000 Fachkräfte fehlten der Branche 2020 bundesweit.
Diese Zahl beruht auf der großzügigen Annahme, dass jeder arbeitslose Handwerker für freie Stellen im ganzen Land infrage kommt, im Zweifel auch innerhalb der gesamten Republik umzieht. In der Realität aber müssen Handwerker nicht umziehen, um einen neuen Job zu finden. Das macht die Lücke noch größer.
Auftragsbücher quellen über
Rezession und Corona-Krise sorgten zwar wie fast überall dafür, dass die Lücke ein wenig schrumpfte, doch dieser Effekt war relativ gering. Der Anteil der offenen Stellen in der Handwerksbranche, für die es keine geeignete Fachkraft gibt, lag im Jahresschnitt bei rund 36 Prozent – und damit deutlich höher als in der Gesamtwirtschaft, die auf gut 27 Prozent kommt. Ändert sich das nicht, drohen Konsequenzen, die Bürger und Wirtschaft im Alltag spüren werden.


„Schon heute hat ein Großteil der Handwerker mehr Aufträge, als sie erledigen können“, sagt Lydia Malin. Sie forscht am Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, das die Studie des Ministeriums verantwortet. „Fast jeder kennt das: Man wartet lange auf einen Termin oder bekommt schlicht gar keinen.“
Ähnliches gilt für Betriebe, die in Wertschöpfungsketten auf entsprechende Zulieferungen angewiesen sind. Zu den Feldern mit dem größten Mangel gehören Malins Daten zufolge Bauelektrik, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, Kfz-Technik, Fleischwarenverkauf sowie Holz- und Möbelbau.
Hausbau? Zuerst Handwerker buchen!
Das zeigt sich auch im fränkischen Erlenbach. Die Mitarbeiter von Franz Brückner stehen im Notfall zwar bereit. Das Motto: Keine Familie muss kalt duschen. Gravierender ist die Lage allerdings, wenn es um größere Projekte geht. „Wir sind für dieses Jahr eigentlich schon voll mit Aufträgen. Unser Fokus liegt auf der Betreuung der schon vorhandenen Kunden“, sagt Brückner.


Vor allem bei Aufträgen mit Ausschreibungen, entweder von der öffentlichen Hand oder Architekten, kann er sich nicht beteiligen. In der Regel handele es sich um Großaufträge, die seine Kapazitäten überschreiten. Zudem sei der bürokratische Aufwand zu groß.
Privatleuten, die ein Haus bauen wollen, rät er: „Sie sollten sich als Erstes darum kümmern, die Handwerker an Bord zu haben. Sonst kann es zu drastischen Verzögerungen kommen.“ Viele Betriebe hätten keine Kapazitäten für Vorhaben, für die sie zwei bis drei Leute abstellen müssen. Und er rechnet damit, dass sich die Lage weiter verschärft.
Es gibt ein Image-Problem
Doch was steckt hinter der Misere? Branchenspezifische Trends sind das eine, sagt Kofa-Forscherin Malin. Am Bau ist es die verstärkte Nachfrage nach Wohnraum, Hörgeräteakustiker treffen auf eine wachsende Zahl alter Menschen. Zum anderen haben fast alle ein Problem gemeinsam: den fehlenden Nachwuchs. „Der demografische Wandel trifft das Handwerk immer härter“, erklärt Malin.
Überdurchschnittlich viele ältere Beschäftigte scheiden aus. Und zu wenige Junge kommen nach. Ein Grund ist die Akademisierung: Heutzutage gilt ein Universitätsabschluss vielen als die bessere Wahl. Immer mehr Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt.
Seit Jahren schon betreibt die Handwerkslobby eine aufwendige Imagekampagne mit großen Plakaten in Städten, edlen Schwarz-Weiß-Bildern von jungen Menschen, die Klempnerin oder Orthopädietechnik-Mechaniker sind. Im Netz sind dieselben Personen dann unter handwerk.de in Videos zu sehen, in denen sie erzählen, wie toll es ist, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen und Kunden zu helfen.
Doch das reicht nicht, um genügend Nachwuchs anzulocken. Viele Leute, die das Handwerk bislang überhaupt nicht als Karriereoption auf dem Schirm haben, erreicht man so nicht. Sie haben nur das wenig attraktive Image im Kopf, das Franz Brückner aus Erlenbach beschreibt.
Der sieht auch ein Versäumnis bei den Betrieben: „Die Auftragslage war in den letzten Jahren so gut, dass viele keinen Anlass gesehen haben, sich zu verändern. Das rächt sich aber – spätestens dann, wenn man keine neuen Leute findet“, sagt Brückner.
Auch Kofa-Forscherin Malin sagt: „Die Unternehmen müssen innovativer werden.“ Es gehe darum, attraktive Geschäftsmodelle und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Sie nennt das Beispiel einer Fleischerei: „Viele junge Leute finden es gut, wenn Produkte bio sind und aus der Region kommen. Betriebe können sich auf die Fahnen schreiben, dass sie Wert auf hohe Qualität legen und die Chance bieten, etwas zu verändern.“
Garantiert nie arbeitslos
Und noch ein Argument könnten die Betriebe nutzen: die Jobsicherheit in der Pandemie. Darauf weist auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hin: „Es ist deutlicher denn je geworden, wie attraktiv und verlässlich Handwerksberufe sind, denn sie bieten auch in Krisenzeiten eine sichere Perspektive.“
„Ein Meistertitel ist die denkbar beste Absicherung gegen Arbeitslosigkeit“, fügt der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer, hinzu. Als Unternehmensnachfolger oder Angestellte würden Meister händeringend gesucht: „Der Fachkräftebedarf ist riesig.“
Franz Brückner ist schon dabei, den Nachwuchs rund um Erlenbach für sich zu begeistern. Gerade konnte er einen neuen Auszubildenden einstellen. Sein Erfolgsrezept: den Interessenten entgegenkommen. Aufwendige Dokumente zu verlangen sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen sei das persönliche Gespräch entscheidend – und dass das Unternehmen sich als attraktiver Arbeitgeber präsentiert.
„Auch im Handwerk muss klar sein, dass die Leute in Elternzeit gehen können und Überstunden sich in Grenzen halten“, erklärt Brückner. „Die Arbeitswelt hat sich längst gewandelt, aber im Handwerk ist das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch viel zu wenig präsent.“
Brückner selbst arbeitet nur vier Tage in der Woche, auch zwei andere Mitarbeiter nutzen flexible Arbeitszeitmodelle. Das stehe auch neuen Mitarbeitern offen. Dennoch bleibt er zurückhaltend: Mehr als der eine neue Auszubildende, so glaubt er, ist in diesem Jahr nicht drin.