Erzeugerpreise auf Rekordhoch

Inflation: Der Preis für Klimaschutz und Deglobalisierung

26.08.2021
Lesedauer: 13 Minuten
Inflation: Viele Artikel sind bereits teuer geworden. Weitere Preiserhöhungen sind wahrscheinlich. Bild: imago images

Die Erzeugerpreise gelten als Inflationsvorboten – und steigen aktuell so stark wie seit 40 Jahren nicht mehr. Warum Sneaker, Klopapier, Kaffee und Möbel teurer werden und der Preisdruck nach Corona zunehmen dürfte.

Mit einem knallroten Schilderwald begrüßt der Euroshop in der Düsseldorfer Nordstraße konsumfreudige Schnäppchenjäger. „Alles 1,10 Euro“, prangert in weißer Schrift auf den Stehern und Wühltischen, die vor dem Eingang platziert sind. Moment mal – 1,10 Euro? 

Über 15 Jahre lang war beim Euroshop der Name Programm: Vom Kochlöffel über Haarbänder bis hin zu Mülleimern und Gartenscheren – zahlreiche Produkte hatte der Discounter stets für einen schlanken wie runden Euro angeboten. Doch diese Zeiten sind schon lange vorbei. Bereits im Frühjahr 2020, als der Einzelhandel nach dem ersten Corona-Lockdown wieder öffnen durfte, erhöhte der Euroshop seine Preise um zehn Prozent – alle Produkte kosten seither zehn Cent mehr.

Mittlerweile hat auch die Aldi-Filiale ein paar Blöcke weiter die Preise hochgesetzt. Insbesondere Markenprodukte sind beim Lebensmittel-Discounter deutlich teurer geworden. Hanuta etwa kostet bei Aldi inzwischen mehr als zwei Euro statt wie bislang 1,99 Euro. Und auch Milka-Schokolade hat die Ein-Euro-Marke geknackt: Für eine Tafel müssen Kunden müssen inzwischen 1,15 bezahlen. Ähnlich sieht es in der Eisdiele hundert Meter weiter aus: Im Vergleich zum letzten Sommer wandern hier für eine Kugel Eis 20 Cent mehr über die Ladentheke.

Dass die Verbraucherpreise deutlich anziehen, ist längst kein Geheimnis mehr. Was bei der immer lauter werdenden Inflationsdebatte allerdings bisweilen untergeht: Es gibt jenseits der Verbraucherpreise noch eine versteckte Inflation, die auf weniger mediales Interesse stößt, aber gleichwohl die Endprodukte für Konsumenten mitbestimmt. Die Rede ist von den sogenannten Erzeugerpreisen. Und die steigen derzeit noch schneller.

Stärkster Preisanstieg seit der Ölkrise 

Der Erzeugerpreisindex gewerblicher Produkte misst die Preisentwicklung für die im Bergbau, im verarbeitenden Gewerbe sowie in der Energie- und Wasserwirtschaft in Deutschland erzeugten und im Inland verkauften Produkte. Unterteilt wird der Index in fünf Hauptgruppen: Vorleistungsgüter, Investitionsgüter, Gebrauchsgüter, Verbrauchsgüter und Energie. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts lag der Erzeugerpreisindex gewerblicher Produkte im Juli 2021 um 10,4 Prozent höher als im Juli vergangenen Jahres – das ist der größte Sprung innerhalb eines Jahres seit Januar 1975, als die Preise in der ersten Ölkrise stark gestiegen waren.

Schon seit Jahresbeginn explodieren die Preise, die Unternehmen für im Inland abgebaute und produzierte Rohstoffe und Industrieerzeugnisse bezahlen müssen: Lag die Teuerungsrate auf Jahressicht im Januar noch bei 0,9 Prozent, vervierfachte sie sich bis März bereits auf 3,7 Prozent. So schnell waren die Erzeugerpreise seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr gestiegen.

Seither folgt ein Rekordhoch dem nächsten: Im April erreichte die Erzeugerpreisinflation mit 5,2 Prozent ihren höchsten Wert seit zehn Jahren. Es folgten Preissteigerungen gegenüber dem Vorjahresmonat von 7,2 Prozent im Mai und 8,2 Prozent im Juni – im Juli knackte die jährliche Teuerungsrate nun erstmal die Zehn-Prozent-Marke. Zum Vergleich: Die Verbraucherpreise legten im Juli im Vergleich zum Vorjahr „nur“ um 3,8 Prozent zu.

Preise für Holz und Metall mehr als verdoppelt

Hauptverantwortlich für den Anstieg der gewerblichen Erzeugerpreise war die Preisentwicklung bei den Vorleistungsgütern, vor allem bei Holz, Sekundärrohstoffen und Metallen. Insgesamt kosteten Vorleistungsgüter im Juli im Schnitt rund 15,6 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Besonders hoch sind die Preisanstiege bei Nadelschnittholz und bei metallischen Sekundärrohstoffen aus Eisen-, Stahl- und Aluminiumschrott. Hier haben sich die Preise mehr als verdoppelt. Aber auch Betonstahl in Stäben kostete zuletzt um 82 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Metalle waren im Juli im Durchschnitt um insgesamt 32,2 Prozent teurer als ein Jahr zuvor, wobei die Preistreiber Roheisen, Stahl und Ferrolegierungen sind. Hier beläuft sich die Teuerung auf 52,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Nichteisenmetalle und deren Halbzeug kostet 23,2 Prozent mehr als noch im Juli 2020.

„Hauptgründe für den starken Anstieg der Stahl- und Holzpreise dürften die hohe Nachfrage im In- und Ausland sowie Probleme bei der Versorgung mit Rohstoffen sein“, erklärt Gerda Gladis-Dörr, Leiterin des Referats Erzeugerpreise, Außen- und Großhandelspreise im Statistischen Bundesamt. Bei den Stahlpreisen kamen zusätzlich kräftige Preissteigerungen für Eisenerzimporte hinzu. Diese stiegen von Juni 2020 bis Juni 2021 um 97 Prozent und haben sich damit fast verdoppelt.

Die Energiepreise waren im Juli 2021 im Durchschnitt 20,4 Prozent höher als im Vorjahresmonat, gegenüber Juni 2021 stiegen sie um 4,1 Prozent. Allein der Erdgaspreis für die Industrie schoss auf Jahressicht um 56,5 Prozent nach oben. Zwar wird die Veränderungsrate gegenüber Juli 2020 zum Teil durch die seit Jahresbeginn eingeführte CO2-Abgabe nach oben gedrückt; aber auch ohne CO2-Steuer kletterten die Erdgaspreise für die Industrie im Vergleich zum Vorjahr um 45 Prozent nach oben – fast zehnmal so stark wie auf Verbraucherebene. Für Industriestrom muss das verarbeitende Gewerbe aktuell 15,6 Prozent mehr bezahlen als noch vor einem Jahr. Für Haushalte ist der Strompreis hingegen nur um 1,6 Prozent gestiegen.

Selbst ohne Berücksichtigung der hohen Energiepreise sind die Erzeugerpreise gegenüber Juli 2020 um 7,4 Prozent gestiegen. Für die Wirtschaft ist das ein Grund zur Sorge, denn: „Erzeugerpreisindizes erfassen Inflationstendenzen in einer sehr frühen Phase des Wirtschaftsprozesses – nämlich direkt bei den Produzenten“, erklärt Gunther Schnabl, Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig. „Erzeugerpreise können als eine Art Frühindikator für den Inflationsdruck in einer Volkswirtschaft gesehen werden, bevor dieser den Verbraucher erreicht.“

Bereits im April hatte die WirtschaftsWoche erstmalig vor einem „Angriff aus dem Hinterhalt“ der Inflation gewarnt und auf das Durchschlagpotenzial der Erzeugerpreise auf die Verbraucherpreise aufmerksam gemacht. Heute, rund vier Monate später, deutet alles darauf hin, dass sich die damalige Prophezeiung schneller erfüllen könnte, als ursprünglich erwartet.

Sportler und Kaffeeliebhaber zahlen zuerst drauf

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In der Sportartikelbranche etwa rechnen viele mit Preissteigerungen für Laufschuhe und Trikots. Eines der Hauptprobleme: In Vietnam, wo alle Sportkonzerne von Adidas über Puma bis Nike bei Zuliefererbetrieben vor allem Schuhe herstellen lassen, sind zahlreiche Fabriken geschlossen. Die Regierung verfolgt eine strikte Coronapolitik – tritt ein Krankheitsfall bei einem Betrieb auf, wird der geschlossen, die Mitarbeiter müssen in einer Corona-Bubble leben, mit entsprechenden Folgen für die Produktion. Die beiden Herzogenauracher Konzerne Adidas und Puma rechnen daher damit, dass im Herbst die Nachfrage das Angebot übersteigen wird, mit Folgen für die Preise.

Dazu kommen steigende Kosten für den Transport durch den Containermangel und Probleme in den Häfen, sowie steigende Preise für die Rohmaterialien wie Stoffe und Reißverschlüsse. Dax-Konzern Adidas etwa, mit einem Umsatz von knapp 20 Milliarden Euro hinter dem US-Konkurrenten Nike der größte Sportkonzern der Welt, rechnet im laufenden Geschäftsjahr zwar mit einem Umsatzplus von 20 Prozent. Allerdings, und damit hadert Adidas-Vorstandschef Kasper Rorsted, hätten die Franken ohne das Vietnam-Problem den Umsatz

wohl um weitere 500 Millionen Euro steigern können. Nun könne der Konzern aller Voraussicht nach nicht so viel Ware produzieren lassen, um die Nachfrage zu decken. Daher prüfe der Konzern auch, die Preise anzuheben.

Damit rechnet auch Frank Geisler, Geschäftsführer des Händlerverbunds Intersport Deutschland: „Ganz klar, auf die Kunden kommen Preissteigerungen zu“, sagte Geisler einer Tageszeitung. Es werde mindestens ein Jahr dauern, bis sich die Lage wieder normalisiert habe. „Die ganze Lieferkette ist stark gestört“, sagt Geisler.

Nachschubprobleme beschäftigen derzeit nicht nur die Sportartikelhersteller. Ernte-Ausfälle in wichtigen Exportländern wie Brasilien und knappe Transport-Kapazitäten schlagen sich massiv auf die Kaffeepreise nieder. Damit könnte die tägliche Dosis Koffein bald deutlich teurer werden. Laut dem brasilianischen Branchenverband Abic müssen die großen Röster schon 80 Prozent mehr für rohe Kaffeebohnen zahlen als noch vor einem halben Jahr. Signifikante Veränderungen in den Marktpreisen hätten stets auch Auswirkungen auf die Verbraucher, heißt aus dem Kaffee-Konzern JDP, zu dem auch die Marke „Jacobs Kaffee“ gehört.

Laut dem Branchenblatt Lebensmittel-Zeitung stehen nahezu alle Hersteller von Lebensmitteln bei den Preisen an der Schmerzgrenze, aufgrund von steigenden Rohstoffkosten, gestiegenen Transportausgaben oder Mehrkosten für Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Demnach seien Branchengrößen wie UnileverHenkelFrosta oder Tchibo mit Preiserhöhungen beim Handel vorstellig geworden. Auch Fischstäbchen-Hersteller Iglo kündigte vor wenigen Wochen Preiserhöhungen an. Diese stünden in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Nachfrage nach nachhaltig produzierten Rohstoffen. Die Bemühungen um Klimaschutz und Nachhaltigkeit hätten „einen Preis, der auf Dauer nicht allein von den Herstellern getragen werden kann“, sagte Iglo-Westeuropa-Chefin Antje Schubert in einer Mitteilung. Demnach seien „Preisanpassungen nicht nur erforderlich, sondern auch ein Gebot der Fairness und Wertschätzung“. Als Gründe führte Iglo auch schlechte Ernten und hohe Logistikkosten an.

Auch das zu Beginn der Coronapandemie ins Rampenlicht gerückte Toilettenpapier kommt nicht aus den Schlagzeilen. Volker Jung, Geschäftsführer und Besitzer der Düsseldorfer Traditionsmarke Hakle, gibt an, dass steigende Nachfrage nach Zellstoff Handlungsdruck erzeugt: „Die Rohstoffpreise ziehen seit Januar 2021 an und entwickeln für die gesamte Branche Relevanz.“ Ein Grund für die Preisexplosion von frischen Zellstoffen ist die gestiegene Nachfrage aus China. Dort trat in diesem Januar der vom dortigen Umweltministerium 2018 angeordnete Bann von Altpapierimporten vollständig in Kraft. Das Land hatte 2017 noch fast 28 Millionen Tonnen Altpapier eingeführt. Im vergangenen Jahr importierte die Volksrepublik immerhin noch acht Millionen Tonnen. Der komplette Bann löst jetzt weltweite Verwerfungen an den Zellstoffmärkten aus: „Es ist eine Lücke von mehreren Millionen Tonnen entstanden“, sagt Esko Uutela, Tissue-Experte vom Marktforschungsinstitut Fastmarkets RISI. „Das bringt jetzt Preiserhöhungen bis in die deutschen Supermärkte.“

Nach der Überlastung im vergangenen Jahr leiden die Hersteller von Toilettenpapier und Küchenrollen vor allem unter hohen Rohstoffkosten und geringer Auslastung. Der Handelsmarkenproduzent Wepa will daher flexible Preise in den Verhandlungen mit den Supermarktketten etablieren. So sollen die Abgabepreise an den Handel in langfristigen Verträgen an Rohstoff- und Energiepreise gekoppelt sein. Demnach würden bei steigenden Rohstoffpreisen auch die Abgabepreise in den Verträgen steigen. Fielen die Kosten wieder, falle auch der Abgabepreis zum kommenden Monat.

Teures Holz, teure Möbel

Bislang deutet aber nichts auf einen abnehmenden Preisdruck hin. Ganz im Gegenteil: Jan Kurth, Geschäftsführer der Verbände der deutschen Möbelindustrie, sagte Anfang der Woche auf einer Veranstaltung des Verbands, dass „bei vielen wichtigen Vormaterialien weiterhin erhebliche Engpässe“ bestünden. Neben Holzwerkstoffen seien auch Metallkomponenten, Beschläge, elektronische Bauteile, Polsterschäume, Bezugsstoffe und Verpackungsmaterialien knapp – also genau jene Güter, bei denen es zuletzt die größten Preissteigerungen gab. In einer Verbandsumfrage gaben 42 Prozent der befragten Möbelhersteller an, dass sich der Materialmangel im Juli 2021 gegenüber dem Vormonat weiter verschärft habe und es wegen der Engpässe zu Einschränkungen und Verzögerungen in der Produktion komme. „Es ist davon auszugehen“, konstatiert Verbandspräsident Kurth, „dass die höheren Produktionskosten in der Wertschöpfungskette weitergegeben werden müssen.“

Markus Meyer, Sprecher des Präsidiums des Handelsverband Möbel und Küchen (BVDM), bestätigt: „Diese Erhöhungen werden sich nicht vollständig abfedern lassen und somit auch an den Kunden weitergebenen werden.“ Deshalb rechne der BVDM bei Möbeln mit einer Preissteigerung von bis zu zehn Prozent.

Wo man auch fragt, in etlichen Branchen gleichen sich die Statements: Die Würth-Gruppe, Weltmarktführer für Befestigungs- und Montagetechnik, berichtet von Lieferengpässen vor allem bei Solar-Unterkonstruktionen. „Durch die weiterhin angespannte Situation auf dem Beschaffungsmarkt bleiben weitere Preiserhöhungen in der Größenordnung von fünf bis 15 Prozent nicht aus“, heißt es aus dem Unternehmen. Und auch Hartmut Jenner, Chef des Reinigungsgeräte-Herstellers Kärcher aus Winnenden, erklärt auf Nachfrage der WirtschaftsWoche, die Beschaffungskosten für Metalle und Kunststoffe seien in den vergangenen Monaten „deutlich gestiegen“. Hinzu kämen auch hier „viel höhere Preise für den weltweiten Frachttransport“. Diese Mehrkosten wirkten sich „als Konsequenz leider auf unsere Produktionskosten und letztlich auf die Preise für unsere Reinigungsgeräte aus“. Kunden in Deutschland würden ab Herbst Preissteigerungen „im mittleren einstelligen Prozentbereich“ verschmerzen müssen.

Schifffahrts-Chaos heizt Preise an

Diverse Umfragen zeigen: Neben  Konsumgüterproduzenten sind viele Hersteller von Produktions- und Investitionsgütern von den Lieferproblemen betroffen. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts klagten im Juli fast zwei Drittel der deutschen Industriebetriebe über Engpässe bei Vorprodukten wie Halbleitern oder chemischen Grundstoffen. So groß waren die Nachschubprobleme noch nie seit der Wiedervereinigung.

Die Lieferengpässe schlagen zunehmend auch auf die Preise durch. „Empirische Analysen deuten darauf hin, dass die Überforderung der Produktionskapazitäten ein statistisch bedeutender Treiber für die Preisentwicklung im verarbeitenden Gewerbe ist“, sagte jüngst Klaus Bauknecht, Chefökonom der IKB Deutsche Industriebank, der WirtschaftsWoche. „Je länger die Engpässe währen, desto stärker geraten die Preise unter Druck.“

Ein wesentlicher Preistreiber sind die Transportkosten. „Steigende Rohstoffpreise allein wären kein Problem“, sagt Mark Schneider, Chef des Lebensmittelkonzerns Nestle. Einen Großteil des Bedarfs habe sich sein Unternehmen bereits über Termingeschäfte zu festgesetzten Preisen gesichert. Bei Transportkosten sei das dagegen nicht der Fall.

Das Problem: Seit Beginn der Corona-Pandemie herrscht in der Schifffahrt Chaos. Die Lieferketten sind gestört und zahlreiche Containerschiffe verspätet. Die wichtigsten Häfen der Welt sind verstopft, die Frachtraten haben sich vervielfacht. Zuletzt hat ein positiv auf das Corona-Virus getesteter Mitarbeiter im Hafen in Ningbo-Zhoushan die nächste Großstörung im Welthandel ausgelöst. Zwei Wochen schon ist der Betrieb eines Terminals nun weitgehend eingestellt. Über 50 Containerschiffe warten seither auf ihre Abfertigung. Nach der Blockade des Suezkanals Ende März und einem ähnlichen Fall im Hafen von Yantian ist das schon der dritte Engpass in den weltweiten Lieferketten in nur sechs Monaten.

Hinzu kommt, dass immer mehr Waren von China nach Europa oder in die USA geschifft werden müssen, weil vielerorts die Menschen statt für Konzerte und Kultur ihr Geld in Küchenmaschinen und Heimkinos investieren. Die Schiffe aber sind ausgebucht und verspätet, vor allem aber teuer. Vor der Coronapandemie kostete ein Standardcontainer von China nach Europa selten mehr als 2000 Dollar, nun gelten bereits 20.000 Dollar als üblich. Alternativen gibt es keine – denn auch Frachtflugzeuge und Güterzüge sind ausgebucht, die Preise steigen ebenso.

„Am Ende werden die Unternehmen diese Kosten an die Verbraucher weitergeben müssen“, warnt Carsten Taucke, Vorstandsvorsitzender des Lebensmittellogistikers Nagel und auch Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel und Dienstleistungen (BGA). „Ich kann mir vorstellen, dass es Produkte gibt, die eine massive Kostensteigerung erfahren.“

Besserung ist nicht in Sicht. „Die Frachtkosten und Lieferketten sind einfach nicht stabil und auch nicht planbar“, sagt Taucke. Die Fahrpläne sind zu sehr durcheinandergeraten, in diesem Jahr werden die Reeder die Verspätungen nicht mehr einholen können. Noch hoffen die Unternehmen darauf, dass sich vielleicht im kommenden Jahr die Situation beruhigen könnte. Allerdings sind auch dann die Schiffskapazitäten weiter knapp. Zwar haben die Reeder in den vergangenen Monaten fleißig neue Schiffe bestellt. Doch die nun georderten Neubauten werden die Werften wohl nicht vor 2023 verlassen.

Deglobalisierung kostet Geld

Deswegen erwägen viele Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten ins eigene Land zurückzuholen. „Das reduziert letztlich das Risiko, von internationalen Handelspartnern sowie immer komplexeren Regulierungs- und Abwicklungsprozessen an den Grenzen abhängig zu sein, erhöht aber auch die Produktionskosten“, sagt Wirtschaftswissenschaftler Schnabl von der Uni Leipzig. 

Auf Verbraucherebene führt die Repatriierung der Lieferketten allerdings zu Preissteigerungen. Denn jahrzehntelang, insbesondere seit den 1990er Jahren, haben die Unternehmen in den Industrieländern durch Produktionsverlagerungen ins Ausland ihre Kosten gesenkt. Auch viele Endprodukte wurden in China und Ostasien günstiger produziert und importiert. Das hat die Inflationsraten in den Industrieländern niedrig gehalten – bis heute.

„Da die Zentralbanken in den Industrieländern bis zuletzt Inflationspunktziele um die zwei Prozent verfolgten, nahmen sie niedrige Inflationsraten zum Anlass, die Zinsen zu senken und die Ankäufe von Vermögenswerten auszuweiten“, erklärt Schnabl. „Der daraus entstehende Inflationsdruck äußerte sich überwiegend bei den Vermögenspreisen und – auch dank der Globalisierung – nur bedingt bei den Konsumentenpreisen.“

Nun würden durch die Klima- und Coronamaßnahmen die internationalen Lieferketten gestört und die Transportkosten erhöht, so Schnabl. Das wiederum verteuere die Preise von im Ausland produzierten Gütern und Vorleistungen. „All das gibt Unternehmen einen Anreiz, die Produktion ins Inland zurückzuholen und treibt – wenn auch etwas zeitverzögert – die Preise und somit auch Inflationsraten auf der Verbraucherebene.“

Nur Lohnzurückhaltung kann helfen

„Noch ist keine Lohn-Preis-Spirale zu erkennen“, sagt Klaus Bauknecht von der IKB Deutsche Industriebank. Damit das auch so bleibt, müssten die Reallöhne mittelfristig allerdings sinken. „Sinkende Einfuhrpreise könnten zwar den benötigten Anpassungsprozess der Reallöhne dämpfen, doch klar ist: Die Arbeitnehmer werden ein wichtiges Element im Anpassungsprozess sein müssen, damit eine sinkende Inflationsrate in den Jahren 2022 und 2023 möglich wird.“

Bislang signalisieren die Arbeitnehmervertreter allerdings wenig Einsicht in Sachen Lohnzurückhaltung. „Der jüngste Bahnstreik ist nur einer der vielen Tarifkonflikte, die in den kommenden Monaten noch auf uns zukommen“, vermutet Schnabl. „Ich gehe davon aus, dass die Gewerkschaften Anfang kommenden Jahres ihre Lohnforderungen allesamt kräftig nach oben schrauben werden, um die gestiegenen Verbraucherpreise zu kompensieren.“ 

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