Selten lagen die Erwartungen zur Teuerungsrate weiter auseinander: Nicht nur Investoren und Notenbanker sind uneins, auch im EZB-Rat gibt es Differenzen.
Frankfurt Normalerweise reichen wenige Bemerkungen von EZB-Präsidentin Christine Lagarde aus, um am Finanzmarkt die Kurse und Erwartungen zu beeinflussen. Aber derzeit verhallen ihre Worte in einem Punkt völlig: Sie schafft es nicht, die Märkte davon zu überzeugen, dass die Inflation im Euro-Raum bald wieder zurückgeht und die Zinsen im nächsten Jahr stabil bleiben sollen.
Selten war die Unsicherheit über die Inflation so hoch wie jetzt – und selten lagen die Erwartungen der Märkte und der Europäischen Zentralbank so weit auseinander. Die Inflationserwartungen im Euro-Raum, die sich aus Marktpreisen ableiten, erreichten Ende Oktober den höchsten Stand seit September 2014. Am Geldmarkt preisen Investoren für 2022 bereits zwei Zinserhöhungen der EZB von jeweils zehn Basispunkten ein.
Lagarde weist diese Erwartungen zurück, dringt damit aber nicht durch. Im Anschluss an die Pressekonferenz nach der jüngsten EZB-Sitzung verlagerten Trader ihre Wetten auf die erste Zinserhöhung sogar drei Monate nach vorn, von Oktober auf Juli. Doch nur eine Seite kann recht haben.
Die Differenzen ziehen sich auch durch den EZB-Rat. Dort warnen einzelne Vertreter davor, die Inflationsgefahren zu unterschätzen. Im Dezember steht der EZB-Rat vor einer Richtungsentscheidung darüber, wie es mit den massiven Anleihekäufen weitergehen soll. Eine Schlüsselrolle dabei spielen die neuen Inflationsprognosen, die die Notenbank dort veröffentlichen wird und die erstmals bis zum Jahr 2024 reichen werden.
„Es besteht kein Zweifel, dass die EZB ihre Inflationsprognosen im Dezember nach oben anpassen muss“, sagt Frederik Ducrozet, Analyst beim Schweizer Vermögensverwalter Pictet. Die Frage sei lediglich, wie stark. Er erwartet, dass vor allem die Prognose für 2022 höher ausfallen wird. Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sieht hingegen eher „auf längere Sicht deutliche Inflationsprobleme“.

EZB-Chefin Lagarde hält an ihrer Sicht eines temporären Preisschubs fest, räumte zuletzt aber ein, dass die Inflation länger als erwartet höher ausfallen könnte. In ihren aktuellen Prognosen von September rechnet die Notenbank mit einer Inflationsrate von 1,7 Prozent für 2022 und von 1,5 Prozent im Jahr 2023.
Der österreichische Ratsvertreter Robert Holzmann ließ aber bereits wissen, er würde „nicht viel Geld darauf wetten, dass die Inflation Ende 2022 unter zwei Prozent liegen wird“. Aus seiner Sicht könnte die EZB ihre Netto-Wertpapierkäufe bereits im September 2022 vollständig beenden. Im vergangenen Oktober beliefen sich diese noch auf rund 90 Milliarden Euro, wovon 70 auf das Kaufprogramm in der Coronapandemie (PEPP) und 20 auf das ältere APP-Programm entfielen.
Die Erwartung des österreichischen Notenbankchefs passt zu den Erwartungen der Märkte. Denn laut des geldpolitischen Ausblicks der EZB (Forward Guidance) sollen die Nettokäufe auslaufen, „kurz bevor“ sie die Zinsen anhebt. Die Notenbank sagt nicht genau, was sie mit „kurz bevor“ meint, viele Ökonomen gehen aber von etwa drei Monaten aus.
Auch der niederländische Notenbankchef Klaas Knot erwartet, dass die Inflation erst Ende 2022 unter die Zwei-Prozent-Marke sinkt. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hat sich nach seiner Ankündigung, zum Jahresende zurückzutreten, zuletzt mit Äußerungen zurückgehalten. In seinem Abschiedsbrief an die Bundesbank-Mitarbeiter warnte er aber, „auch perspektivische Inflationsgefahren nicht aus dem Blick zu verlieren“.
Keine vergleichbare Situation
Die Unsicherheit über die Inflationsentwicklung ist auch deshalb so groß, weil es eine vergleichbare Situation wie jetzt durch die Pandemie nie gegeben hat. Es treffen Angebotsengpässe und Nachholeffekte beim Konsum zusammen. Selbst wenn diese vorübergehend sind, ist schwer abschätzbar, welche Dynamik daraus entsteht. Das stellt die EZB und die Notenbanken im Euro-System vor große Herausforderungen, denn ihre Prognosemodelle stützen sich stark auf Daten aus der Vergangenheit.
Noch komplizierter wird es dadurch, dass die EZB schon in den vergleichsweise normalen Zeiten vor der Pandemie mit ihren Inflationsprognosen weit danebenlag. Jahrelang hat sie die Preisentwicklung stets überschätzt. Jetzt gehen die Märkte und die Inflations-Warner im EZB-Rat davon aus, dass sie diese unterschätzt.

Sie verweisen darauf, dass es wahrscheinlich länger dauern wird, bis sich die aktuellen Angebotsengpässe auflösen. Viele Branchen wie die Autoindustrie leiden zum Beispiel unter dem aktuellen Chipmangel. Neue Chipfabriken lassen sich aber nicht von heute auf morgen bauen. Ähnliche Probleme gibt es auch in anderen Sektoren.
Auch Zulieferern und anderen Unternehmen fällt es im aktuellen Umfeld viel leichter, höhere Materialkosten, Rohstoff- oder Energiepreise an die Kunden weiterzureichen. Dadurch besteht das Risiko sogenannter Zweitrundeneffekte, dass also Kostensteigerungen weitere Preiserhöhungen nach sich ziehen und so eine Eigendynamik entsteht.
Chefvolkswirt Lane sieht die Inflationsrisiken gelassener
Auf der anderen Seite sieht EZB-Chefvolkswirt Philip Lane als wichtigster Kopf der Geldpolitik der Notenbank die Inflationsrisiken deutlich gelassener als die Märkte und einige seiner Kollegen. Er betonte jüngst erneut, dass er mit einem Rückgang der Inflation im nächsten Jahr rechne und die Rate auf mittlere Sicht immer noch zu niedrig sei.
Zudem hat er auf die nach wie vor schwache Lohnentwicklung hingewiesen. Jahrelang hat die EZB gehofft, dass die Löhne im Euro-Raum stärker steigen, damit sie ihr Inflationsziel von zwei Prozent erreicht und eine selbsttragende Dynamik in Gang kommt, die die Preisentwicklung auf diesem Niveau hält. In einer Rede sagte Lane jüngst, dass für ihn selbst einmalige stärkere Lohnanstiege noch kein Anzeichen einer dauerhaft höheren Inflation wären.
Lane sieht offenbar die Gefahr, durch eine frühzeitige Straffung der Geldpolitik eine erwünschte Lohndynamik abzuwürgen. Dagegen fürchten Inflations-Warner, dass die EZB zu spät reagiert und es bei stärkeren Lohnerhöhungen zu einer Spirale kommt, bei der sich Inflation und Löhne gegenseitig verstärken.
Traditionell war die Herangehensweise der EZB, Inflationsgefahren sehr früh zu begegnen, damit die Inflation keine zu starke Eigendynamik entwickelt. Allerdings lag sie damit aus Sicht vieler Experten nicht immer richtig. So erhöhte sie zum Beispiel zu Beginn der Euro-Krise zweimal die Zinsen – und verstärkte damit die Krise eher. Verfechter einer lockeren Geldpolitik argumentieren, dass es im aktuellen Niedrigzinsumfeld riskanter wäre, die Zinsen zu früh anzuheben, als sie zu spät zu erhöhen.

Insgesamt gehen die Meinungen über die künftige Inflationsentwicklung vor der nächsten EZB-Ratssitzung am 16. Dezember also weit auseinander. Wie die Entscheidung der EZB ausfällt, hängt davon ab, welche Sicht sich durchsetzt. Je stärker der Rat die Inflationsrisiken einschätzt, desto geringer dürfte der geldpolitische Stimulus ausfallen, also der Umfang der weiteren Anleihekäufe.
Relativ klar ist bereits, dass das PEPP-Programm Ende März auslaufen soll. Daneben läuft weiter das APP-Programm, über das die EZB für monatlich 20 Milliarden Euro Anleihen kauft. Dieses könnte sie zeitweise aufstocken, um einen abrupten Abriss der geldpolitischen Unterstützung nach dem Ende von PEPP zu verhindern. Möglicherweise weitet sie es angesichts der Inflationsrisiken aber nur in geringem Umfang aus.