Trotz hoher Inzidenzwerte wollen drei Nachbarländer Deutschlands Schulen, Geschäfte oder Kinos öffnen. Warum gehen Frankreich, die Niederlande und Österreich diesen Schritt?
Während in Deutschland am Freitag die bundesweite Notbremse in Kraft getreten ist, haben die Regierungen in den Nachbarländern Frankreich, Niederlande und Österreich Lockerungen in Aussicht gestellt – obwohl die Inzidenzwerte dort deutlich höher sind als hierzulande oder im Fall Österreichs auf ähnlichem Niveau. So kündigte der französische Premierminister Jean Castex am Donnerstagabend angesichts eines Sieben-Tage-Inzidenzwertes von 330 Lockerungen der Corona-Maßnahmen an.
„Der Höhepunkt der dritten Welle scheint hinter uns zu liegen“, sagte Castex. Von Montag an sollen die Kindergärten und Grundschulen bis einschließlich der fünften Klasse im ganzen Land wieder öffnen und vollen Präsenzunterricht anbieten. Vom 3. Mai an sollen dann alle Schüler zum Präsenzunterricht zurückkehren. In der gymnasialen Oberstufe soll der Unterricht mit halben Klassenstärken organisiert werden.
„Die Kinder brauchen Schule. Das ist ein Faktor der Entfaltung und ihrer guten seelischen Gesundheit“, sagte Bildungsminister Jean-Michel Blanquer der Zeitung „Le Parisien“. Sobald bei einem Kind eine Corona-Infektion festgestellt werde, schließe man dessen Schulklasse. „Mir ist es lieber, ein Prozent der Klassen als 100 Prozent der Schulen schließen zu müssen“, sagte der Bildungsminister. Die Regierung in Paris hat sich entschieden, in der Pandemiebekämpfung eine deutlich andere Abwägung zu treffen als die Regierung in Berlin.
Keine Kopplung an Inzidenzzahlen
An die Inzidenzzahlen gekoppelte automatische Schulschließungen lehnt man in Paris ab. Stattdessen gibt Präsident Emmanuel Macron dem Recht auf Bildung den Vorrang über den Infektionsschutz. Dieser Kurs hebt sich stark von der französischen Lockerungsstrategie im Frühjahr 2020 ab. Im vergangenen Mai öffnete Frankreich die Schulen erst wieder, nachdem die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Schwelle von 5000 unterschritten hatte. Derzeit übersteigt die Zahl der Neuinfektionen im Wochendurchschnitt 30.000 am Tag.
Präsident Macron hat den Kurswechsel wiederholt mit dem Primat der Politik begründet. Premierminister Castex gestand am Donnerstag ein, dass im dritten Lockdown die Zahl der Ansteckungen wesentlich langsamer zurückgehe als im ersten Lockdown.
Doch inzwischen überwiegt in Paris das Argument der Zumutbarkeit. Vom 2. Mai an soll die Zehn-Kilometer-Grenze fallen, innerhalb derer sich die Bürger tagsüber rund um ihre Wohnung bewegen können. Von Mitte Mai an soll erstmals seit Ende Oktober die Außengastronomie wieder öffnen dürfen. Auch die landesweite nächtliche Ausgangssperre zwischen 19 Uhr und 6 Uhr morgens könnte gelockert werden. Mitte Mai sollen dann nach den Plänen auch Geschäfte und kulturelle Einrichtungen unter Auflagen wieder öffnen. Zumindest für diesen Schritt nannte Castex allerdings eine Voraussetzung: Die Zahl der täglichen Neuinfektionen müsse auf etwa 20.000 sinken.


Auch in den Niederlanden weisen alle Indikatoren auf ein zunehmendes Infektionsgeschehen hin. Deutschland hat den Nachbarn – wie zuvor Frankreich – Anfang April als Hochinzidenzgebiet eingestuft. Dennoch beschloss die Regierung Lockerungen. Mitte nächster Woche entfällt die nächtliche Ausgangssperre, Geschäfte dürfen Kunden wieder ohne vorherigen Termin empfangen, tagsüber ist Außengastronomie erlaubt.
Das Kabinett setzte sich damit über den Rat seiner eigenen Fachleute hinweg. Man tue das, „weil wir es für sozial verantwortbar halten“, sagte Ministerpräsident Mark Rutte im Parlament. Die Fachleute hätten prognostiziert, dass die dritte Welle bald ihren Scheitelpunkt erreiche – die Regierung nehme diese Entwicklung vorweg. Viel Kritik musste sich Rutte dafür nicht anhören. Politisch liegt er in der Mitte zwischen einigen Linken, die für mehr Vorsicht sind, und den starken Rechtsaußenparteien, die seit langem auf eine Aufhebung der Beschränkungen dringen.
Die Niederländer sind insgesamt weniger bereit als viele Deutsche, ihre Freiheit einschränken zu lassen. Sie sind auch bereit, höhere Risiken dafür in Kauf zu nehmen. Das Land reagierte später als die meisten Nachbarn auf die Pandemie und führte als Letztes in Europa eine Maskenpflicht ein. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt seit Wochen über 250, derzeit sogar über 300, ohne dass dies zu erregten Debatten führen würde. Rutte spricht gerne vom „kalkulierten Risiko“ und trifft damit die Stimmungslage.
„Wir befinden uns auf den letzten Metern der Pandemiebekämpfung“
In Österreich gibt es seit Monaten jenes Szenario, das in Deutschland so viel Widerstand hervorgerufen hat: Abendliche Ausgangsbeschränkungen, und zwar schon von 20 Uhr an. Wie funktioniert es? Man kann auch spätabends unbehelligt durch die Wiener Innenstadt spazieren oder U-Bahn fahren; aber Grüppchen, zumal lagernde Jugendliche, bekommen es schnell mit der Polizei zu tun. Auf dem Land freilich, so bezeugen mehrere Gewährsleute, wenn man verspricht, die Ortschaft nicht zu nennen, findet rege „nachbarschaftliche“ Geselligkeit statt.
Bislang sind die Schließungen regional differenziert. In Vorarlberg ganz im Westen hat schon die Außengastronomie geöffnet, in Wien und Niederösterreich im Osten hat selbst der Handel noch geschlossen. Doch der Druck in der Bevölkerung, endlich Lockerungen zu sehen, ist überall groß. Am Freitag beschloss ein „Öffnungsgipfel“ prinzipiell einheitliche Schritte aus dem Lockdown , die aber regional, wenn nötig, verschärft werden können.
Von nächster Woche an öffnen die Schulen wieder im Schichtbetrieb, Anfang Mai sollen voraussichtlich die Geschäfte öffnen, Mitte Mai auch die Gastronomie, Veranstaltungen in Kultur und Sport. Dabei gelten Auflagen wie Abstand und Höchstzahl der Personen. Zum Beispiel: Maximal zehn Gäste am Tisch draußen, vier Erwachsene im Gasthaus; bei Veranstaltungen muss jeder zweite Platz frei bleiben, es gilt eine Höchstgrenze von 3000 Personen.
Voraussetzungen für den Zutritt soll sein, dass man entweder negativ getestet, geimpft oder durch überstandene Krankheit immunisiert ist. Man hofft, dass das robuste Gesundheitssystem die wahrscheinlich steigenden Erkrankungszahlen auffangen kann und der Fortschritt der Impfung – gut ein Viertel der Erwachsenen haben zumindest eine erste Dosis erhalten – einen entgegenwirkenden Effekt hat. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte: „Wir befinden uns auf den letzten Metern der Pandemiebekämpfung.“ Man könne die Öffnungen verantworten, doch müsse die Bevölkerung „achtsam bleiben, um das nicht zu verspielen“.