Mit Quoten und Verboten in ein neues Deutschland: Warum die Grünen alles Mögliche sind, aber nicht liberal

29.03.2021
Lesedauer: 8 Minuten
Die beiden Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck stellen das grüne Programm zur kommenden Bundestagswahl vor. Filip Singer / EPA

Die Partei Robert Habecks und Annalena Baerbocks profitiert bis jetzt am meisten von der Schwäche der Union. Sie gilt als bürgerlich, doch das ist ein Trugschluss. Der Blick ins Programm zeigt: In einer grünen Republik nähme der Staat seine Bürger unablässig bei der Hand.

Die Grünen nähern sich dem Kanzleramt mit grossen Schritten. Neue Umfragen rücken politische Konstellationen in den Bereich des Möglichen, die bis vor kurzem als Hirngespinste abgetan worden wären. Der Absturz der Union auf zuletzt nur noch 25 Prozent sorgt dafür, dass eine von den Grünen angeführte Koalition mit SPD und FDP eine Mehrheit der Sitze im nächsten Bundestag haben könnte.

Eine solche «Ampel» käme laut jüngsten Umfragen auf zirka 50 Prozent. Grün-rot-rot läge knapp dahinter. In beiden Fällen folgten Robert Habeck oder Annalena Baerbock auf Angela Merkel. Wie sähe ein Deutschland aus, das nach dem Willen der Grünen gestaltet wäre? Die Antwort der Parteiprogramme lautet: Es wäre eine quotierte Republik mit einem fordernden und zuteilenden Staat, der nahezu alle Bereiche durchdringt. Das vermeintlich Gute wäre das umfassend geregelte Leben.

Rot-rot-grün käme gegenwärtig auf knapp 50 Prozent

Voraussichtliche Zahl der Sitze im Bundestag gemäss jüngsten Umfragen

Die politische Führung wollen, inhaltlich wie personell

Wahlprogramme sind Beipackzettel ohne Nebenwirkungen. Sie drücken aus, wie eine Partei sich sieht und wovon sie sich begeistern lässt. Dennoch lohnt es sich, die 137 programmatischen Seiten mit dem neckischen Titel «Deutschland. Alles ist drin» zu studieren. So und nicht anders wollen die Grünen das Land fundamental verändern. Das Programm bietet ausdrücklich allen ein umfassendes Angebot. In den Worten Baerbocks: «Wir wollen die Breite der Gesellschaft erreichen, und die erreicht man nicht, indem man nur in seiner eigenen Blase herumturnt, sondern indem man hinausgeht ins Land, indem man pragmatisch Lösungen findet.»

Grüne Politik ist einem klimapolitischen Imperativ untergeordnet. Selbst die grüne Kandidatin für das Amt des Berliner Bürgermeisters, Bettina Jarasch, sagt, angesprochen auf ihre Pläne für die Stadt: «Das Hauptthema ist, dass wir die Klimakatastrophe stoppen müssen» – in Berlin, wohlgemerkt.

Grüne Politik ist Katastrophenabwehrpolitik. Das Klima setzt in dieser Perspektive der Menschheit eine letzte Frist. Anno 2020/21 beginnt für die Grünen das entscheidende Jahrzehnt, denn «heute ist unser Sprungtuch in ein besseres Morgen». Baerbocks Worte vom digitalen Parteitag im November vergangenen Jahres mögen die Poesie eines Kalenderspruchs verströmen. Sie bemänteln indes einen klaren Willen zur Macht. Der Entwurf zum Wahlprogramm beginnt nach einem identitätspolitischen Aufschlag mit dem Bekenntnis, die Grünen wollten «die politische Führung in diesem Land, inhaltlich und personell».

Gesetze, Gesetze, Gesetze

Der hohe Anspruch ergibt sich aus der Dringlichkeit der Situation. Die Grünen sehen sich unmittelbar beauftragt vom Klima. Das Klima ist der wahre Souverän, von ihm beziehen die Grünen ihr Mandat. Aufgabe der Wähler kann es nur sein, zuzustimmen und mitzumachen. In der grünen Republik gäbe es ausschliesslich engagierte Menschen, von Kindesbeinen an, und alle teilten das gleiche Engagement: Sie wollen die Klimakrise besiegen. Die «Privatisierung von politischen Prozessen» lehnt Habeck ab.

Damit beginnen die Probleme. Selbst wenn Habeck oder Baerbock den Weg ins Kanzleramt finden, hätte eine grosse Mehrheit der Bürger nicht die aktuell auf 23 Prozent taxierten Grünen gewählt. Wie geht man mit denen um? Wie macht man aus skeptischen Privatleuten grün engagierte Bürger? Durch Geld und Gesetze. Der grüne Staat ist ein Umverteilungsstaat. Er sitzt auf einem Berg von Geld und teilt es den Richtigen zu. Die Grünen wollen laut Wahlprogramm einführen: ein Klimawohngeld, eine Mobilitätsprämie, eine Kindergrundsicherung mit «Garantie-Plus-Beitrag» und eine allgemeine Garantiesicherung, ausserdem eine «KinderZeit Plus». Nahverkehr und Volksbildung und «Diversity» sollen üppig subventioniert werden.

Die Grünen wollen ein Wertstoffgesetz erlassen und ein Rettet-die-Lebensmittel-Gesetz, ein Bundesqualitätsgesetz für Kitas, ein Demokratiefördergesetz, ein Einwanderungsgesetz, ein Gesetz für digitalen Gewaltschutz, ein Barrierefreiheitsgesetz, ein Entgeltgleichheitsgesetz, ein Bundesantidiskriminierungsgesetz und ein Bundesinklusionsgesetz. Es soll vermehrt «Bürger*innenräte» geben, eine erweiterte Bundesstiftung Gleichstellung, einen Partizipationsrat, einen Antirassismusbeauftragten, einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung, ein Recht auf Wohnen und ein Recht auf Reparatur von Elektrogeräten.

Nur planetare Grenzen gibt es noch

Diese und viele weitere «politische Leitplanken» stehen unter dem Vorbehalt, dass sie dem Klima nützen und die Klimaneutralität voranbringen: «Wir setzen Prioritäten. Von jetzt an wird belohnt und gefördert, was Mensch und Tier, Klima und Natur schützt. Und was zerstörerisch wirkt, muss dafür auch die Kosten tragen und Schritt für Schritt überwunden werden.» Klimaschutz sei eine «Frage des politischen Kanons».

Zu überwinden sind durch eine «globale sozial-ökologische Transformation», die nur planetare Grenzen kennt, Kernbereiche der Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs. Bereits im Grundsatzprogramm «Veränderung schafft Halt» von 2020 hiess es, im Wettbewerb solle fortan erfolgreich sein, «wer übergeordnete gesellschaftliche Ziele nicht konterkariert, sondern befördert». Alle wirtschaftliche Aktivität müsse sich am «gesamtgesellschaftlichen Wohlstand» ausrichten. Solche Ergebnisse lassen sich nur erreichen, wenn der Staat massiv in den Wettbewerb eingreift und Sieger nach seinem Gusto kürt. Der Staat ist es auch, der festlegt, welche Form des Wirtschaftens reüssieren darf. Er entscheidet nach seinen weltanschaulichen Vorgaben, wie sich «gesamtgesellschaftlicher Wohlstand» definiert.

Robert Habeck sagte in einem Interview, jeder Mensch wäre überfordert, müsste er sich bei jeder Kaufentscheidung politisch korrekt verhalten. Um dennoch «möglichst viel korrektes Verhalten» zu erreichen, bedürfe es der Politik: «Wir müssen nicht bessere Menschen machen, wir brauchen bessere Politik.» Alles andere wäre die von ihm abgelehnte «Privatisierung von politischen Prozessen». Im Programmentwurf zur Bundestagswahl steht der entsprechende Satz: «Wir begreifen es als unsere Aufgabe, bessere Regeln zu schaffen, nicht den besseren Menschen.» Menschen, heisst das, denen man die Möglichkeit nimmt, sich falsch zu entscheiden, entscheiden sich automatisch richtig. Habeck will die «Konsumenten-Demokratie» überwinden.

Eine abgründige Unwucht

Wenn es ab 2025, wie es die Grünen wollen, nur noch «To-go-Mehrwegbecher» gibt, kommt der Mensch gar nicht in die Versuchung, Einwegbecher zu kaufen. Wenn es «verbindliche Reduktionsstrategien für Zucker, Salz und Fett» gibt, kann der Konsument gar nicht zum überzuckerten Fast Food greifen, denn überzuckerten Fast Food wird es nicht mehr geben. Dem grünen Kernanliegen, durch Regeln, Gesetze und Verbote «uns als Menschen im Alltag zu entlasten», wohnt eine abgründige Unwucht inne: Die Grünen öffnen das Tor zur Vormundschaft des Staates. Sie misstrauen dem Menschen und fürchten seine Freiheit.

Quoten sollen die Freiheit in die richtigen Bahnen lenken. Obergrenzen pro Stall und «nicht mehr als zwei Grossvieheinheiten pro Hektare» sind sinnvoll und relativ leicht umsetzbar. Auch «ambitionierte Recyclingquoten» und eine «ansteigende nationale Quote für emissionsfreie Autos», ehe 2030 nur noch solche Autos zugelassen werden sollen, könnten politische Mehrheiten organisieren. Wie aber verhält es sich mit einer geforderten Frauenquote von 40 Prozent «auf allen Ebenen» des Wissenschaftsbetriebs? Was geschieht, wenn partout nicht genügend Frauen Bergbau, Mechatronik oder Mathematik studieren wollen? Lässt man Professuren lieber unbesetzt, als sie an einen Mann zu vergeben?

Ähnlich dürfte es sich mit der 50-Prozent-Quote in allen diplomatischen und multilateralen Verhandlungen verhalten. Zur Freiheit gehört auch die Freiheit, sich für einen Beruf nicht zu entscheiden. Dass die Partei trotz mehrmals bestätigter Verfassungswidrigkeit an einer gesetzlich verankerten Geschlechterparität in deutschen Parlamenten festhält, bestätigt die unlängst von dem ehemaligen deutschen Innenminister und FDP-Mitglied Gerhart Baum diagnostizierte «Geringschätzung grundrechtlicher Freiheit und rechtsstaatlicher Grundsätze» bei den Grünen.

Die deutsche Staatsbürgerschaft als Durchhalteprämie

Wenn das Klima das politische Mandat erteilt und nur der Planet die Grenzen setzt, sind Staatsbürger praktische Varianten des Weltbürgertums. Das Angebot an alle, das die Grünen machen wollen, ist ein Angebot an «alle, die dauerhaft ihren Lebensmittelpunkt hier haben». Vor dem grünen Weltgewissen bündeln sich legale und illegale Aufenthalte zur opaken Gruppe der «neu ankommenden» Menschen. Wer es fünf Jahre schafft, nicht des Landes verwiesen zu werden, wird mit sicherem Bleiberecht belohnt und darf einen Antrag auf Einbürgerung stellen.

Andere Bedingungen gibt es nicht. Die deutsche Staatsbürgerschaft wird zur Durchhalteprämie. Die Grünen treten den neuen Deutschen gegenüber wie den Kindern. Plötzlich waltet geradezu religiös grundierter Optimismus. Kinder sind samt und sonders «werdende Demokrat*innen», Migranten ausnahmslos Repräsentanten schützenswerter Vielfalt. So wird inmitten globaler Transformationsstürme ein heiles Bild von Zukunft konserviert.

Robert Habeck hält die Grünen für keine linksradikale Kraft. Sieht man von der grünen Jugend ab, stimmt die Diagnose. Der Vorsitzende hält seine Partei aber auch für eine «gesellschaftlich liberale Kraft». Anhand des Wahl- und des Grundsatzprogramms lässt sich diese These nur in Randbereichen aufrechterhalten. Im Ganzen sind die Grünen weder liberal noch bürgerlich, werden aber von immer mehr bürgerlichen Liberalen gewählt. Ob diese je einen Blick auf die zahllosen Leitplanken warfen, mit denen die Grünen Deutschland regulieren, die Wirtschaft transformieren und die Gesellschaft umbauen wollen? Das grosse Ganze, weiss Annalena Baerbock, ist immer «wahnsinnig komplex».

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