Antisemitismus in Deutschland

„Immer wieder junge islamistische Männer, die uns Juden angreifen“

14.05.2021
Lesedauer: 9 Minuten
11. Mai: In München tragen Antisemiten ihren Hass offen zur Schau - Quelle: RIAS Bayern (3)

Brennende Israel-Fahnen, Steinwürfe auf Synagogen, antisemitische Mobs auf der Straße: Infolge der Eskalation im Nahen Osten häufen sich in Deutschland Bedrohungen und Angriffe gegen Juden und ihre Einrichtungen. Betroffene erzählen WELT vom Ausmaß des Hasses.938

Eine Menschenmenge steht vor dem Nebeneingang einer Synagoge in Gelsenkirchen. Nachdem ein Mann „Scheißjuden!“ gegrölt hat, steigen immer mehr Menschen in den Sprechchor ein, wie ein auf Twitter veröffentlichtes Video zeigt. „Scheißjuden! Scheißjuden! Scheißjuden!“, skandieren dann etwa 40 Menschen 13-mal.

In zahlreichen Medien wurden die hasserfüllten Szenen vom Mittwochabend als „antiisraelische Demonstration“ verharmlost. Doch was sich hier abspielte, ist die Eskalation des israelbezogenen Antisemitismus.

„Als Tochter von Holocaust-Überlebenden verstehe ich überhaupt nicht, wie so etwas wieder passieren kann“, sagt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach. „Für unsere Mitglieder, die zu einem großen Teil aus der ehemaligen Sowjetunion kommen, ist das beängstigend und emotional schwer zu verkraften.“

Die Gemeinde hatte im Laufe des Nachmittags von Demonstrationsaufrufen erfahren und Mitarbeiter nach Hause geschickt, die die anstehenden Feiertage vorbereitet hatten. Dadurch konnte ein Aufeinandertreffen mit den antisemitischen Versammlungsteilnehmern verhindert werden. Neuwald-Tasbach ist überzeugt: „Die Situation im Nahen Osten ist nur ein Vorwand für die Menschen, hier ihren Hass auf Juden auszuleben.“

Tatsächlich ist es für die jüdische Community in Deutschland immer spürbar, wenn sich die Lage in Israel und den palästinensischen Gebieten verschärft. Zahlreiche in den sozialen Medien aktive Menschen machten in den vergangenen Tagen Hassnachrichten und Drohungen öffentlich, die sie aufgrund ihrer Erkennbarkeit als Juden erhielten. Darunter waren sowohl Menschen, die sich solidarisch zu Israel bekannt haben, als auch Menschen, die zuvor keine Position zum israelisch-palästinensischen Konflikt bezogen hatten.

Als israelbezogenen Antisemitismus versteht die Antisemitismusforschung Judenhass, der über den Umweg vermeintlicher Kritik am jüdischen Staat geäußert wird. Darunter fällt etwa das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen der israelischen Regierung. Im israelbezogenen Antisemitismus werden zudem häufig antisemitische Stereotype des kriegslüsternen und mächtigen Juden auf den jüdischen Staat übertragen.

Das reale Verhalten von Juden – auch denen in Israels Regierung – spielt dabei keine Rolle. Sie gelten im antisemitischen Weltbild als Verursacher alles Bösen, als omnipotenter Feind. Israelbezogener Antisemitismus richtet sich nicht nur gegen den jüdischen Staat, sondern auch gegen israelische Einzelpersonen und gegen Juden auf der ganzen Welt.

Den Kindern beibringen, keine jüdischen Lieder zu singen

„Wir müssen aufgrund der aggressiven Demonstrationen und Online-Hassbekundungen leider davon ausgehen, dass es in den nächsten Tagen eine weitere Zunahme von antisemitischen Vorfällen geben wird“, befürchtet Annette Seidel-Arpaci; sie leitet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern und unterstützt Betroffene von Judenhass.

In München beobachtete Rias Bayern am Dienstag eine antiisraelische Demonstration mit 600 Teilnehmern. Dort habe ein Münchner Imam zu Parolen wie „Kindermörder Netanjahu“ aufgerufen. Bereits aus dem christlichen Antijudaismus im Mittelalter ist die sogenannte Ritualmordlegende bekannt, nach der Juden Kinder ermorden und ihr Blut für rituelle Zwecke verwenden würden.

Am selben Tag waren vor Synagogen in Bonn und Münster israelische Flaggen angezündet worden; in Bonn wurden zudem Steine auf den Eingangsbereich der Synagoge geworfen. „Angriffe auf Synagogen und dortige Flaggenverbrennungen haben mit Kritik an Israels Regierung nichts zu tun. Dabei geht es einzig und allein um Antisemitismus“, sagt Seidel-Arpaci.

Margaret Traub ist die Vorsitzende der Synagogengemeinde Bonn. Sie berichtet WELT, dass drei junge Syrer, die schon länger in Deutschland lebten, kurzzeitig wegen Sachbeschädigung festgenommen und anschließend wieder freigelassen worden seien.

„Es ist mir egal, woran die Leute glauben. Aber leider sind es immer wieder junge islamistische Männer, die uns Juden angreifen“, sagt Traub. Der Antisemitismus komme jedoch von allen Seiten, auch von Rechts- und Linksradikalen sowie aus der Mitte der Gesellschaft. „Die Menschen kennen keine Juden und hassen sie trotzdem.“

Traub hatte sich bereits vor den Vorfällen an der Synagoge aufgrund der Ereignisse im Nahen Osten in der Gemeinde ausgetauscht. „Man rechnet immer damit, dass, wenn irgendetwas in Israel passiert, Juden auf der ganzen Welt dafür verantwortlich gemacht werden“, sagt sie. Ihren Enkelkindern habe sie beibringen müssen, in der Öffentlichkeit keine jüdischen Lieder zu singen. Diese hätten das überhaupt nicht verstehen können.

Aufgrund mehrerer verbaler Angriffe hatte Traub den männlichen Mitgliedern der Gemeinde bereits vor einigen Monaten empfohlen, die Kippa nur unter einem Hut zu tragen.

Sharon Fehr, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Münster, berichtet von einer wachsenden Verunsicherung unter den Mitgliedern. Einerseits durch die Geschehnisse in Israel, weil viele dort Familie und Freunde haben. Andererseits durch die Personengruppe, die ihren Zorn vor der Synagoge ausgelebt habe.

Laut Fehr handelte es sich dabei um rund 15 junge Männer arabischer und türkischer Herkunft. „Wer eine israelische Fahne vor einem jüdischen Gotteshaus verbrennt, stellt sich explizit gegen unsere Bemühungen eines friedlichen Miteinanders“, sagt er. „Ich mag mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn für die aggressive Meute ein Jude erkennbar gewesen wäre.“

Gewaltdrohung mit Zwinker-Smiley

Mittwochabend in Berlin: Rund 120 Menschen haben sich vor dem Brandenburger Tor versammelt, um nach dem andauernden Raketenbeschuss der Hamas ihre Solidarität mit Israel auszudrücken. Auf einem Transparent steht „Free Gaza from Hamas“, auf einem anderen „Jewish Lives Matter“, eine Anspielung auf die „Black Lives Matter“-Bewegung.

Unter den Rednern ist auch Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands. „Ich wünsche den Palästinensern sehr, dass sie einst in Frieden und Demokratie leben können“, sagt sie. „Doch dort, wo es an Hilfsgeldern für Bildung, Infrastruktur oder Impfungen fehlt, gibt es plötzlich Ressourcen für Raketen.“ WELT erzählt sie, dass sie bereits seit Tagen Hassnachrichten erhalte.

Angefangen habe es nach dem Sabbat der vergangenen Woche, als Staroselski ein Foto von einem Familienabend mit einem Brettspiel auf Instagram gepostet hatte. „Shavua tov“, schrieb sie dazu, ein jüdischer Gruß für eine schöne kommende Woche.

Anna Staroselski
Anna StaroselskiQuelle: Rina Gechtina

Kurz darauf war folgende Nachricht in ihrem Posteingang: „Palestina für immer ihr israelische bastarde ich hoffe gott bestrafte euch ihr hürensohne.“ Staroselski habe danach eine gewisse Ohnmacht gefühlt, erzählt die 25-Jährige. „Ich stehe selbstbewusst zu meiner jüdischen Identität, aber es ist mir unerklärlich, warum ich aufgrund des israelischen Regierungshandelns als deutsche Jüdin Hassnachrichten bekomme, wenn ich Fotos aus meinem privaten Leben poste.“

Als sie sich später in einem weiteren Posting solidarisch mit Israel zeigte, wurde das Foto mit Palästinafahnen-Emojis geflutet. Dann wurde sie auch dort bedroht: „I stand with Palestine U danger girl be with some big guys“ (sinngemäß: „Ich stehe für Palästina ein. Du bist in Gefahr, umgib dich mit ein paar großen Typen“), schreibt ein Nutzer mit einem zwinkernden Smiley.

Instagram Post Staroselski Israel Palästina
Quelle: www.instagram.com/a.staroselski/

Auch Mike Samuel Delberg kennt solche Drohungen. Der jüdische Aktivist hatte am vergangenen Sonntag auf Instagram ein Video gepostet, bei dem ein Teilnehmer der deutschen Delegation der Makkabi-Sportolympiade vor dem Jerusalemer Teddy-Kollek-Stadion ein jüdisches Lied anstimmt. Daraufhin erhielt er zahlreiche Beleidigungen und Bedrohungen.

Nach einem weiteren Posting, in dem er zu Frieden und Solidarität mit Israel aufrief, erhielt Delberg nach eigener Angabe rund 1000 Hasskommentare und 100 private Nachrichten, in denen er teilweise in Sprachnachrichten persönlich bedroht wurde.

Mike Samuel Delberg
Mike Samuel DelbergQuelle: picture alliance/dpa

„Wir Juden haben gelernt: Wenn uns jemand bedroht, haben wir das ernst zu nehmen“, sagt er. Viele Hassnachrichten seien auf Deutsch geschrieben worden und von Profilen gekommen, die Orten in Deutschland zugeordnet werden konnten. „Ich habe ein dickes Fell. Doch bei mir haben sich auch viele Menschen gemeldet, die ähnliche Nachrichten erhalten und Angst bekommen haben.“

Tatsächlich scheint ein Teil der Nachrichtenflut organisiert abzulaufen. Weil Delbergs Profile auf Facebook und Instagram massenhaft gemeldet wurden, sind diese aktuell gesperrt.

Auch auf dem Instagram-Account von WELT gingen am Mittwoch und Donnerstag teilweise alle 30 Sekunden neue antiisraelische Hassbotschaften ein.

Auswahl von Direktnachrichten, die bis Mittwochmorgen beim Instagram-Account von WELT angekommen waren
Auswahl von Direktnachrichten, die bis Mittwochmorgen beim Instagram-Account von WELT angekommen warenQuelle: www.instagram.com/welt/

Ein Blick auf die Profile zeigt, dass es sich dabei nicht um sogenannte Bots, also Computerprogramme, handelt, sondern um Profile von echten Personen. Zudem waren in zahlreichen Profilen aufgrund der Nahost-Berichterstattung Boykottaufrufe gegen die Redaktion zu sehen.

„Bedrohliches Zusammenwachsen verschiedener Milieus“

Die Beratungsstelle Ofek, die Betroffene von antisemitischer Diskriminierung und Gewalt begleitet, hat aufgrund der aktuellen Lage ein Krisenprogramm gestartet, das eine Erreichbarkeit über Wochenend- und Feiertage gewährleistet. „Die sich häufenden Beratungsanfragen zeigen schon jetzt, dass Jüdinnen und Juden hier stellvertretend angegriffen werden“, sagt die Geschäftsführerin Marina Chernivsky.

Sie betont, dass nichts an der aktuellen Situation neu sei und jede israelisch-palästinensische Auseinandersetzung hierzulande schnell zu einer Verdichtung der Bedrohung für Juden führe. „Es gibt nicht nur konkrete Vorfälle, sondern eine antisemitische Kontinuität als Teil der Normalität. Diese zeigt sich in subtilen Tönen bis hin zu gewaltvollen Konfrontationen.“

Laut der Amadeu-Antonio-Stiftung wurden auch einige ihrer Referentinnen der Veranstaltungsreihe „Jüdisches Quartett“ bedroht. Die Stiftung entschied sich daher, eine bereits lange geplante Online-Veranstaltung zur Beziehung von Israel und Juden in der Diaspora abzusagen. „Mit der stark gegen Israel aufgeheizten Debatte geht eine Bedrohungslage für jüdische Einrichtungen und Personen in Deutschland einher“, sagt die Stiftungsvorsitzende Anetta Kahane.

Sie beobachtet, dass sich an der Eskalation auch Künstler, Kulturschaffende und Menschen, die im Antirassismusbereich aktiv sind, beteiligten. „Es ist deutlich spürbar, dass es nicht nur um legalistische Islamisten geht. Dieses Zusammenwachsen verschiedener Milieus ist bedrohlich.“

Einige Landesinnenministerien haben bereits auf die Ereignisse in Gelsenkirchen, Bonn und Münster reagiert. „Dass der Konflikt auch Auswirkungen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland haben kann, zeigen die Vorfälle in Nordrhein-Westfalen“, sagt Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). „Wir haben unsere Polizistinnen und Polizisten sensibilisiert, sie werden in den kommenden Tagen verstärkt präsent sein.“ Man werde alles tun, was möglich sei, um die jüdischen Einrichtungen zu schützen.

Aus Nordrhein-Westfalen teilt eine Sprecherin des Innenministeriums mit, dass es möglich sei, dass „rechte Gruppierungen eine provokante, symbolische Aktion vor einer jüdischen beziehungsweise israelischen Einrichtung inszenieren“ werden.

Ein Sprecher des brandenburgischen Innenministeriums sagt, dass sich die Gefährdungslage der dortigen jüdischen Einrichtungen aktuell nicht geändert habe und es derzeit keine Erkenntnisse gebe, die eine Verschärfung der Gefährdungslage begründeten. Aus weiteren Bundesländern ist zu hören, dass eine Sensibilisierung der Einsatzkräfte stattgefunden habe und diese beauftragt worden seien, die Lageentwicklung bei den Objektschutzmaßnahmen zu beachten.

Aus dem Innenministerium in Thüringen heißt es, dass alle dortigen Polizeidienststellen sensibilisiert worden seien, den Schutz jüdischer Einrichtungen über die bereits geltenden Maßnahmen verstärkt in der Streifentätigkeit zu berücksichtigen. „Unterstützt werden die Maßnahmen durch entsprechende Aufklärung in der Fläche mit Blick auch auf die Asylbewerberunterkünfte mit hohem Anteil arabischer Bewohner.“

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