AstraZeneca-Impfstoff

Neurologen beobachten seltenes Hirnthrombose-Risiko auch bei älteren Frauen

05.05.2021
Lesedauer: 8 Minuten
Vor allem Frauen sollten vor einer Impfung mit AstraZeneca über die Risiken aufgeklärt werden, fordern Neurologen Foto: Xavier Lorenzo / Getty Images

Die Impfung mit AstraZeneca wird in Deutschland für Menschen ab 60 Jahren empfohlen. Laut einer Studie könnten jedoch auch Frauen über 60 von einer sehr seltenen, aber gefährlichen Komplikation betroffen sein.

Die wichtigste Botschaft vorab: Die in diesem Artikel beschriebenen Komplikationen nach einer Impfung gegen Covid-19 sind sehr seltene Ereignisse. Das Risiko jedes und jeder Einzelnen, davon betroffen zu sein, ist extrem gering. Dennoch ist es wichtig, diese Risiken zu erfassen und offen über sie zu sprechen.

Laut einer aktuellen Studie unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) gibt es Hinweise darauf, dass das Risiko von Hirnvenenthrombosen nach einer AstraZeneca-Impfung nicht nur bei Menschen unter 60 Jahren erhöht ist, sondern auch bei Frauen, die 60 oder älter sind. Die Arbeit wurde noch nicht von anderen Forschenden begutachtet, sondern zunächst als sogenanntes Preprint veröffentlicht.

Dieses Ergebnis kann die Frage aufwerfen, ob die Impfempfehlung in Deutschland, nach der AstraZeneca für alle Menschen über 60 Jahren empfohlen wird, die richtige ist. Gleichzeitig wollen die Neurologen keine unnötigen Ängste wecken.

»Wir stellen damit nicht die Impfung infrage, auch nicht das AstraZeneca-Vakzin, denken aber, dass alle Personen, vor allem Frauen, vor der Impfung über dieses Risiko aufgeklärt werden sollten, gerade auch im Hinblick darauf, auf welche Symptome sie im Nachgang zu achten haben«, sagt DGN-Präsident Christian Gerloff laut einer Pressemitteilung. Und er fordert: »Außerdem sollte sehr zeitnah eine neue Risiko-Nutzen-Bewertung durch die zuständigen Behörden erfolgen.«

Stärken, Schwächen, Datenlücken – die Studie im Detail

Wie kommen die Forschenden auf ihr Ergebnis? Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat alle neurologischen Kliniken in Deutschland im April gebeten, über sämtliche Fälle von Hirnvenenthrombosen, Schlaganfällen und Hirnblutungen zu berichten, die spätestens 31 Tage nach einer Covid-19-Impfung der betroffenen Person aufgetreten waren. Fast alle neurologischen Abteilungen von Unikliniken antworteten, von den Neurologien an anderen Krankenhäusern reagierten 30 Prozent.

Die Forschergruppe identifizierte anhand der Antworten 62 Betroffene, 47 davon (76 Prozent) Frauen. Der Altersmedian lag bei 46 Jahren, 80 Prozent waren jünger als 60 Jahre. 45 hatten eine Hirnvenenthrombose. Dazu kamen neun Fälle ischämischer Schlaganfälle, vier Fälle von Hirnblutungen und vier andere thrombotische Ereignisse. Elf Betroffene starben.

Anhand mehrerer Kriterien bewertete die Forschergruppe, wie wahrscheinlich ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung war.

  1. Betroffene hatten Antikörper gegen einen Blutplättchen-Bestandteil namens PF4.
  2. Im Labor führten diese Antikörper zur Gerinnselbildung.
  3. Betroffene hatten einen Mangel an Blutplättchen, eine sogenannte Thrombozytopenie.
  4. Das Problem trat im Zeitraum zwischen einem und 16 Tagen nach Impfung auf, nicht später.

Der Grund für diese Kriterien: Aufgrund mehrerer Studien geht man davon aus, dass die Impfung in sehr seltenen Fällen dazu führt, dass der Körper Antikörper gegen seine eigenen Blutplättchen aktiviert (1), was dann dazu führt, dass die Blutplättchen wie bei einem Wundverschluss verklumpen (2). Dadurch entsteht ein Mangel an Blutplättchen (3). Dieser Prozess geschieht in einem bestimmten Zeitraum nach der Impfung, der nach bisherigen Untersuchungen eben in aller Regel nicht länger als 16 Tage dauert (4). Einer der aktuell verwendeten Begriffe für dieses neue Phänomen ist: Von Impfstoffen verursachte Thrombose mit Blutplättchenmangel (englische Abkürzung: VITT).

Trafen mindestens drei der vier Punkte zu, gingen die Forschenden davon aus, dass ein ursächlicher Zusammenhang sehr wahrscheinlich war, dass also eine VITT vorlag. Bei 19 der 45 Fälle von Hirnvenenthrombosen wurde der Zusammenhang als sehr wahrscheinlich bewertet.

Wie hoch ist nun das Risiko für Geimpfte je nach Alter und Geschlecht? Um das zu ermitteln, nutzte die Forschergruppe Impfdaten aus neun Bundesländern. Nur aus neun, weil lediglich neun Bundesländer aufgeschlüsselt nach Geschlecht, Alter und Impfstoff melden, wer geimpft wurde. Entsprechend konnten sie auch nur jene Fälle aus ihrer Befragung für diese Berechnung werten, die aus diesen neun Bundesländern stammten. Das Team bezog sich dabei auf die Daten nach der Erstimpfung. Mit AstraZeneca wurden in Deutschland erst sehr wenige Menschen zweimal geimpft, bei den RNA-Impfstoffen deutlich mehr, weil diese in kürzerem Abstand verabreicht werden. Alle erstmals Geimpften flossen mit 31 Tagen (oder weniger, falls sie erst kurz vor Studienende geimpft wurden) in die Rechnung ein.

Die wichtigsten Zahlen

Das Fazit zuerst:

  • Die Rate von Hirnvenenthrombosen war nach einer AstraZeneca-Impfung mehr als neunmal höher als nach einer Impfung mit einem RNA-Impfstoff (Biontech oder Moderna).
  • Die Rate war bei Frauen im Vergleich zu jener bei Männern mehr als dreimal erhöht.

Die Zahlen im Detail:

  • So häufig sind Hirnvenenthrombosen generell: Aus früheren Untersuchungen wird angenommen, dass auf 100.000 Personenjahre gerechnet, also wenn man 100.000 Menschen ein Jahr lang beobachtet, 0,22 bis 1,75 Hirnvenenthrombosen auftreten. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

So unterschieden sich die Impfstoffe insgesamt:

  • Bei den mit Biontech Geimpften wurden 1,3 Fälle pro 100.000 Personenjahre verzeichnet. Bei keinem der Fälle lag eine VITT vor. Unter den vergleichsweise wenigen mit Moderna Geimpften gab es keinen Fall.
  • Bei den mit AstraZeneca Geimpften waren es dagegen 17,9 Hirnvenenthrombosen pro 100.000 Personenjahre, was erneut bestätigt, dass dieser Impfstoff dieses Risiko erhöht. In 62 Prozent der Fälle lag eine VITT vor.

So unterschieden sich die Raten nach einer AstraZeneca-Impfung nach Geschlecht und Alter:

  • Bei den Frauen gab es nach der AstraZeneca-Impfung pro 100.000 Personenjahre 23,5 Hirnvenenthrombosen.
  • Bei den Männern waren es 6,2 Fälle pro 100.000 Personenjahre.
  • Während es bei den Frauen unter 60 Jahren 24,24 Fälle gab, waren es bei den Frauen über 60 Jahren 20,52.
  • Bei Männern unter 60 waren es 8,86 Fälle, bei Männern über 60 gab es keinen einzigen Fall.

Und im Vergleich bei Biontech:

  • Bei unter 60-jährigen mit Biontech Geimpften war die Rate bei Männern und Frauen nahezu gleich bei 3,5 beziehungsweise 3,6 Fällen pro 100.000 Personenjahre.
  • Bei den ab 60-Jährigen gab es bei den Männern keinen Fall zu verzeichnen, bei den Frauen lag die Rate bei 0,8 pro 100.000 Personenjahre.

Diese Zahlen haben ein paar Haken, was sich bei dieser Form von Auswertung nicht vermeiden lässt: Es ist wahrscheinlich, dass die tatsächliche Fallzahl höher liegt, denn zum einen haben nicht alle angefragten neurologischen Kliniken berichtet und zum anderen können Patientinnen und Patienten auch in einer anderen Abteilung behandelt worden sein – weshalb keine Neurologie von ihnen wusste. Und falls Betroffene gestorben sind, ehe sie behandelt werden konnten, tauchen sie in dieser Abfrage nicht auf. Zum Vergleich: Bis zum 21. April wurden dem für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Institut 63 Fälle von Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfungen gemeldet, in 34 Fällen im Zusammenhang mit einer Thrombozytopenie.

Gleichzeitig lassen sich auch zum Beispiel Fehler in der Diagnostik nicht völlig ausschließen. Außerdem sind die in Arztpraxen Geimpften in der Auswertung ausgeschlossen, weil hier nicht die Daten übermittelt werden wie aus den Impfzentren. Allerdings schloss die Befragung Mitte April, also kurz nach Aufnahme des Impfens in Praxen.

Tobias Kurth, Direktor des Instituts für Public Health an der Charité-Universitätsmedizin, und sein Team haben die Daten ausgewertet. Er geht davon aus, dass die von ihnen veröffentlichten Zahlen eher zu niedrig sind als zu hoch gegriffen.

Nur der Blick aufs Gehirn

Eine weitere Einschränkung der Studie: Sie betrachtet nur Fälle, in denen die Komplikationen das Gehirn betrafen – weil es sich um eine Arbeit handelt, in der Neurologie-Abteilungen von Neurologie-Expertinnen und -Experten befragt wurden.

Bekannt ist inzwischen aber, dass eine VITT auch an anderen Stellen zu Thrombosen führen kann, etwa an den größeren Venen des Bauchraums. Über die Risiken dieser Komplikationen sagt die Arbeit entsprechend nichts aus. Man kann aber einen Impfstoff nicht nur auf Basis eines Risikos bewerten, wenn verschiedene vorliegen.

Was passiert jetzt?

Die Studienautoren hoffen, dass sich das für Impfstoffe zuständige Paul-Ehrlich-Institut und die Ständige Impfkommission (Stiko) ihre Arbeit zeitnah ansehen. »Die Daten zeigen, dass auch ältere Frauen ein erhöhtes Risiko einer Hirnvenenthrombose nach Gabe der AstraZeneca-Vakzine haben. Ob dies zu einer Änderung der Impfempfehlungen führt, sollte mit den vorliegenden Daten in einer Risiko-Nutzen-Analyse schnell bewertet werden«, sagt Kurth. Aktuell wird der Impfstoff für Menschen ab 60 Jahren empfohlen, Jüngere können sich nach Rücksprache für ihn entscheiden.

Um das geringe, aber vorhandene Risiko einer Hirnvenenthrombose einzuordnen, muss es mit dem Risiko des Nichtimpfens oder eines späteren Impfens abgewogen werden, das sich je nach Alter, aber auch nach Infektionslage unterscheidet.

»Wir denken, dass der AstraZeneca-Impfstoff mit einem sehr geringen Risiko für zerebrale Sinus-und Venenthrombosen bei Männern einhergeht. Bei Frauen aller Altersklassen traten zwar mehr Fälle thrombotischer Ereignisse auf, die Rate war aber in Anbetracht der vielen Millionen verimpften Dosen insgesamt immer noch sehr gering. Bei der Abwägung muss auch berücksichtigt werden, dass das Risiko einer Sinus-Venenthrombose bei einer Covid-19-Infektion um den Faktor 10 erhöht ist, die Erkrankung führt verhältnismäßig häufig zu thrombotischen Ereignissen mit Todesfolge, die Impfung nur extrem selten«, so Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN.

Stiko-Mitglied: »Würde es vermehrt Fälle bei über 60-jährigen Frauen geben, müssten wir die sehen«

Rüdiger von Kries, Mitglied der Stiko, folgt der Schlussfolgerung der Neurologen, dass die Daten ein höheres Risiko der Impfung für ältere Frauen hinreichend belegen, nicht. Er betont, dass in der Studie nur sehr wenige Fälle in der Altersgruppe über 60 ausgewertet wurden und in der Modellierung nicht differenziert wurde, ob es sich um eine VITT handelt oder eine Thrombose ohne diese Merkmale.

»Wir sehen, dass die Meldungen von Hirnvenenthrombosen und anderer Thrombosen nach AstraZeneca-Impfung stark zurückgegangen sind, seit wir die Altersempfehlung geändert haben. Würde es vermehrt Fälle bei über 60-jährigen Frauen geben, müssten wir die sehen«, ist er sich sicher. Eine Änderung der Stiko-Empfehlung hält er auf dieser Basis nicht für notwendig.

Von Kries lobt die Studie dafür, dass sie zeigt, dass neben Hirnvenenthrombosen auch andere Komplikationen im Gehirn mit einer VITT einhergehen können. Und dass sie erneut bestätigt, dass nach RNA-Impfungen keine Fälle von VITT auftreten.

Anmerkung der Redaktion: Die Stellungnahme von Rüdiger von Kries erreichte uns erst nach Veröffentlichung dieses Artikels; wir haben sie nachträglich hinzugefügt. 

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