Flirtet Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch mit Rechtspopulisten? Sie schießt darin wild um sich – gegen Fridays for Future, gegen die EU, gegen Identitätspolitik. Aber: Nicht selten trifft sie auch.
Die richtig Reichen haben einen Porsche, eine Rolex und ein Haus auf Sylt, die Lifestylelinken haben die Identitätspolitik – das könnte die Pointe sein, auf die sich die 345 Seiten von Sahra Wagenknechts neuem Buch bringen lassen: der Kampf gegen Sexismus und Rassismus als Statussymbol eines woken Milieus.
Die Pointe wäre böse und natürlich ungerecht, wahlweise gegenüber Wagenknecht oder dem woken Milieu. Aber völlig daneben läge sie auch wieder nicht. Deswegen regen sich ja alle so auf über dieses Buch. Ein Bundesvorstandsmitglied ihrer Partei nannte das Buch »eine Liebeserklärung an die rechten Kräfte im Land«. Auch andere prominente Parteigenossen forderten sie auf, besser auf ihre Bundestagskandidatur zu verzichten. Wie kommen die dazu?
Das Buch ist interessanter als die Debatten darüber, interessanter auch als die meisten anderen Politikerbücher. Während jene oft nur geschrieben zu sein scheinen, um das eigene Bild auf ein Cover drucken zu können, steht in diesem wirklich etwas drin: ein grundlegendes gesellschaftstheoretisches Werk, ein bisschen größenwahnsinnig vielleicht, denn Wagenknecht hat zu allem eine Meinung – und meist eine sehr eigene. Sei es zur Identitätspolitik oder zur Klimapolitik, zur Einwanderung oder zur globalisierten Wirtschaft, zur EU, zur Digitalisierung.
Sie hat sich eingehend mit dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz beschäftigt, mit Studien und Theorien von Thomas Piketty und David Goodhart, von Michael Hartmann, Robert Pfaller, Cornelia Koppetsch. Und weil sie nicht nur eine der klügsten und belesensten Spitzenpolitikerinnen des Landes ist, sondern auch eine der begabtesten Populistinnen, gibt sie in ihrem Buch all diesen Studien und Theorien einen Spin, manchmal vielleicht einen etwas zu großen.
Wagenknecht zeichnet in ihrem Buch ein Feindbild: selbsternannte Linksliberale, die sie aber weder links noch liberal findet. Ihrer Meinung nach haben sie primär die Bessergebildeten und Besserverdienenden im Blick, nicht die wirklich Armen. Ihrer Meinung nach behindern sie den freien Diskurs mit »emotionalisierten Empörungsritualen«. Wagenknecht nennt sie Lifestylelinke. Im Mittelpunkt ihrer politischen Ansichten stünden nicht mehr soziale Probleme und Verteilungsfragen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten, der moralischen Haltung.
Umstellt von Lifestylelinken
In ihrer Analyse lehnt Wagenknecht sich erkennbar an den Soziologen Andreas Reckwitz an, den Lieblingsdenker des politischen Berlin, der eine »neue Mittelklasse« identifiziert hat: kosmopolitische Großstadtakademiker, die gerne Güter mit origineller Geschichte konsumieren und noch lieber vielleicht solche mit einem ethischen Wert, weil sie ihrem Leben einen Sinn verleihen und ihnen eine Identität. Die »Gesellschaft der Singularitäten«, die Reckwitz beschreibt, ist eine der Distinktion. Die wichtigste Währung ist Anerkennung, und so ist es vielleicht kein Wunder, dass die Anerkennungspolitik der Verteilungspolitik in den vergangenen Jahren tatsächlich den Rang abgelaufen hat, zumindest in den öffentlichen Debatten.
Wagenknecht sieht sich umstellt von solchen Lifestylelinken: die Grünen komplett, die SPD weitgehend, längst auch die Mehrheit der eigenen Partei, und so schießt sie wild um sich. Nicht selten trifft sie aber auch.
In den Fünfziger- bis Siebzigerjahren, schreibt Wagenknecht, hätten sich vor allem diejenigen als links bezeichnet, deren Bildung und Einkommen vergleichsweise niedrig gewesen sei, die Höhergestellten hätten zu »Mitte-Rechts-Parteien« tendiert. Heute hingegen seien es die Bessergebildeten und zunehmend auch die Besserverdienenden, die links wählen. Der Grund: Die Linke habe »die Seiten gewechselt«, von den Unterprivilegierten zu den Privilegierten: »Heute steht das Label links meist für eine Politik, die sich für die Belange der akademischen Mittelschicht engagiert. Sie profitiert von Globalisierung und EU-Integration, von hoher Zuwanderung und zumindest teilweise auch vom wirtschaftsliberalen Status quo.«
»Die meisten Wähler rechter Parteien sind keine Feinde der Demokratie. Viele haben eher den Glauben daran verloren, in einer zu leben.« Sahra Wagenknecht
Das ist Wagenknechts Kernthese: Der Lifestylelinke hält seine Privilegien für persönliche Tugenden, das ach so moralische Gewissen entpuppt sich bei näherem Hinsehen allzu oft als Distinktionsbewusstsein: »Statt um Veränderung geht es um Selbstbestätigung.«
Ja: Wagenknecht greift zu Begriffen und manchmal zu Sätzen, die auf so simple Art richtig sein wollen, dass sie falsch sind, schreibt etwa, SPD und Linke hätten die AfD zur führenden »Arbeiterpartei« gemacht (immerhin in Anführungsstrichen). Der Raum für Ambivalenzen, den sie in vielen aktuellen Debatten zurecht vermisst, geht dann gleich wieder verloren. Aber: Sie hat trotzdem einen Punkt.
Es ist de facto so, dass diese neue Mittelschicht nicht nur die Debatten dominiert, sondern es weitgehend geschafft hat, sich gegen Aufsteiger abzuschotten. »Der Fahrstuhl nach oben funktioniert nicht mehr«, schreibt Wagenknecht und spricht von einem »neuen Bildungsprivileg«, das unter anderem darin besteht, dass heute in vielen gut bezahlten Berufen Fähigkeiten verlangt werden, die das staatliche Bildungssystem kaum vermittelt: Praxiserfahrungen aus unbezahlten Praktika; Fremdsprachenkenntnisse, die sich so nur in einem teuren Auslandsjahr erwerben lassen; ein Gestus der Weltläufigkeit und kosmopolitischen Souveränität.
Es sind solche leistungsfremden Aspekte, die bestehende Benachteiligungen verstärken: Vitamin B ist ungleicher verteilt als Bildungschancen. Die richtige Art zu sprechen, zu essen, sich zu kleiden, lässt sich nicht pauken wie Mathehausaufgaben.
Wagenknecht betont, dass es natürlich richtig sei, Diskriminierungen zu überwinden, aber die Identitätspolitik konstruiere allzu oft gemeinsame Interessen, »wo es überhaupt keine gibt«. Gemeinsame Interessen, das ist Wagenknechts Credo, haben die Armen und Ausgegrenzten – und zwar unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung. Die Identitätspolitik hingegen schaffe einen Pseudozusammenhalt in kleinen Gruppen, torpediere aber dadurch das gesamtgesellschaftliche Gemeinschaftsgefühl.
»Selbst die Emanzipation der Frau war in erster Linie eine Emanzipation der Akademikerinnen.« Sahra Wagenknecht
Man muss diese Diagnose nicht teilen, um sich darüber zu wundern, dass die Soziale Frage sich inzwischen ein identitätspolitisches Mäntelchen umlegen muss, um noch gestellt zu werden. Klassismus heißt das dann. Das Problem liegt darin, dass die Klassismus-Debatte die Soziale Frage letztlich zu einer Frage von Anerkennung herabstuft. Und Sahra Wagenknecht geht es eben um mehr: Umverteilung.
Wagenknecht argumentiert gegen Identitätspolitik, aber nicht, weil sie Sexistin wäre oder Rassistin, sondern weil sie Klasse für die wichtigere Kategorie hält als Race und Gender, ihre Diagnose: Die gut bezahlten Jobs werden heute kulturell divers besetzt, aber sozial so homogen wie nie zuvor. »Das Quoten- und Diversity-Theater« spiele sich ausschließlich in den höheren Rängen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik ab, »selbst die Emanzipation der Frau war in erster Linie eine Emanzipation der Akademikerinnen.« Wenn eine Reinigungskolonne ihre Putzfrauen rekrutiert, pardon: Raumpflegekräfte, fragt niemand nach Diversity.
Wagenknecht argumentiert gegen Fridays for Future, aber nicht, weil sie eine Klimawandelleugnerin wäre, sondern weil sie Fridays for Future für eine Bewegung bessergestellter junger Menschen hält, die sich um die Zukunft der Welt sorgen können, weil sie sich um die eigene nicht sorgen müssen. Der Fokus liege zu sehr auf Konsum und Konsumverzicht. Wagenknecht hingegen fordert, dass wir anders produzieren müssten, regionaler vor allem und ressourcenschonender.
Wagenknecht argumentiert für den Nationalstaat, aber nicht, weil sie Europafeindin wäre, sondern weil sie es ohne Nationalstaat derzeit für unmöglich hält, für jene soziale Umverteilung zu sorgen, die ihr vorschwebt; eine Solidargemeinschaft verlangt nach einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl.
Wagenknecht argumentiert gegen eine lockere Einwanderungspolitik, aber nicht, weil sie Nationalistin wäre, sondern weil sie viele Migrationsverlierer sieht: auf globaler Ebene die ärmeren Länder, bei uns die ärmere Hälfte der Bevölkerung, »zu der großenteils auch die Kinder und Enkel früherer Migranten gehören«. Es sei doch kein Zufall, dass diejenigen, die ohnehin schon für niedrige Löhne arbeiten, Zuwanderung anders bewerten als Besserverdiener, »die sich über ein billiges Kindermädchen oder einen preiswerten Klempner freuen.«
Man muss all das nicht richtig finden. Aber es ist unlauter, Wagenknecht wegen solcher Positionen in die rechte Ecke zu stellen, wie das Teile ihrer Partei in den vergangenen Tagen getan haben. Die Debatte über ihr Buch, das ist die eigentliche Pointe, hat manche der Buchinhalte bestätigt.
Wer in Wagenknecht die Rassistin sehen will, die das Geschäft der AfD macht, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass sie gleichzeitig für mehr Flüchtlings- und Entwicklungshilfe plädiert, für eine fairere Handelspolitik, für ein Ende westlicher Interventionskriege.
Eine andere Frage ist es, ob Wagenknecht in ihrem Buch strategisch klug kommuniziert: Sie führt die Selbstgewissheit des woken Milieus vor, aber sie tut das streckenweise in einem so selbstgewissen Ton, dass man ihr schon deshalb widersprechen mag.
»Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden.« Sahra Wagenknecht
Die Identitätspolitik, schreibt sie, »begräbt den Anspruch, eine rationale Debatte auch nur führen zu können, und überhöht diffuse Empfindungen und mimosenhaftes Beleidigtsein.« Mal angenommen, da ist etwas dran (und das ist es), mal weiter angenommen, man will stattdessen eine rationale Debatte anstoßen (und das behauptet Wagenknecht): Ist es dann klug, die Empfindungen »diffus« und das Beleidigtsein »mimosenhaft« zu nennen? Ist es klug, die identitätspolitischen Lifestylelinken, die man gerade als besonders kränkbar identifiziert hat, gleich darauf zu beleidigen?
Wagenknecht schreibt: »Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden.« Warum schreibt sie solch einen Satz? Wer in eine Rockerkneipe geht und ruft: »Ihr seid alle Muschis«, der muss damit rechnen, verhauen zu werden. Wer den Dialog sucht, der schreibt einen solchen Satz nicht.
Es mag sein, dass diejenigen, die Wagenknecht Lifestylelinke nennt, den Lebensstil der sogenannten einfachen Leute verachten, aber Wagenknecht antwortet darauf ihrerseits mit Verachtung. »Moralisieren ersetzt Argumentieren«, kritisiert sie zu Recht, ersetzt dann ihrerseits aber das Argumentieren immer mal wieder durchs Provozieren.
»Die Selbstgerechten« ist ein interessantes Buch, aber leider auch ein selbstgerechtes.